Jesus ausser Landes - Predigt über Markus 7,31-37 am 21. August 2021 (Vorabend des 12. S.n.Tr.) im Evang. Gemeindezentrum Neuendorf (Insel Hiddensee)

21.08.2021

Liebe Gemeinde!

Jesus auf Abwegen! Jesus nicht einfach unterwegs im heiligen Land, wie wir so gerne sagen – obwohl es dort derzeit wenig Heiliges zu beobachten gibt. Jesus – einmal nicht unterwegs zwischen Galiläa und Jerusalem. Auf den Wegen und Straßen, von denen in so vielen biblischen Berichten und Reiseführern die Rede ist. Nein, dieses Mal lesen wir von Jesus in einem anderen Landstrich. In der Region der Zehn Städte, in der Dekapolis, wie dieses Land genannt wird.

Jesus überwindet Grenzen. Ein ums andere Mal. Das wissen wir. Zwischen Armen und Reichen. Zwischen Mächtigen und Machtlosen. Auch zwischen sündigen Menschen, Menschen am Rande, und solchen, die sich für gerecht halten.

Heute kommt eine weitere Grenzüberschreitung hinzu. Nämlich die zwischen Einheimischen und Ausländern. Der heutige Predigttext ist nicht der erste Bericht einer solchen Grenzüberschreitung. Ihm geht unmittelbar eine andere solche Grenzüberschreitung voraus. Eine, die es mindestens so in sich hat wie die, um die es im Predigttext gleich geht. Aber wir können den Predigttext nur richtig verstehen, wenn wir vorher einen Blick auf den vorausgehenden Bericht werfen.

Jesus befindet sich in Tyros, ganz im Süden gelegen, an der Grenze der Welt, in der sich sein Wirken sonst abspielt. Eine Frau spricht ihn an. Eine Griechin. Eine ausländische Frau. Keine Frau, die seinen jüdischen Glauben mit ihm teilt.

Was jetzt folgt, finde ich einfach atemberaubend. Diese Frau, eine Ausländerin, hat allergrößtes Vertrauen zu Jesus. Sie fasst sich ein Herz. Und sie bittet Jesus, ihre psychisch kranke Tochter zu heilen.

Die Antwort Jesu ist einigermaßen befremdlich. Müssten wir nicht annehmen, dass ein theologisches Konzept dahintersteckt – und womöglich eher eines des Evangelisten als eines, das von Jesus ausgeht - fast wäre ich sonst geneigt, diese Position rassistisch zu nennen.

Jesus sagt, so der Bericht im Markus-Evangelium: „Ich bin nur zu den Kindern des Hauses Israel gesandt. Du fällst da nicht darunter. Ich möchte meine Möglichkeiten nicht vor die Säue werfen, ich möchte sie nicht an Leute verschwenden, die darauf keinen Anspruch haben.“ Wörtlich heißt es: „Es ist nicht recht, dass man den Kindern das Brot wegnehme und werfe es vor die Hunde.“

Die Frau lässt nicht locker. „Aber die Hunde dürfen doch zumindest das fressen, was ihren Herren vom Tisch fällt!“ Das leuchtet Jesus ein. Und er lernt. Er lernt von dieser griechischen Frau, dass es Glauben gibt – nicht nur jenseits der Grenzen derer, die sich für rechtschaffen halten – nein, auch jenseits der eigenen Religion.

Es sind nicht nur Brosamen und Essensreste, die Jesus dieser Frau gibt. Er lässt sie teilhaben an der Fülle des Lebens. Er erkennt ihren fremden Glauben an. „Geh hin!“, sagt Jesus. „Weil du einen solchen Glauben hast, ist deine Tochter gesund!“

Glauben, der sich findet jenseits der vertrauten Grenzen! Dieses Mal jenseits der Grenze der vertrauten Religion. Jesus betritt hier gewissermaßen religiöses Neuland. Und gleich in Fortsetzung dieses Berichtes betritt Jesus Neuland im Sinne des Wortes, im geographischen und im kulturellen Sinn. Hört, wie dieser ersten Grenzüberschreitung die zweite gleich nachfolgt:

Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und spuckte aus und berührte seine Zunge und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s ihnen aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden.

Dieses Mal ist es eine reale Grenze, die Jesus überschreitet. Er verlässt seine eigene Provinz. Er betritt das Land der zehn Städte. Das Gebiet der Dekapolis, des Zehn-Städte-Landes, liegt östlich des Jordan. Damaskus gehört dazu, die Hauptstadt des heutigen Syrien. Und Amman, die Hauptstadt Jordaniens.

Mehrere hundert Kilometer liegen zwischen dem Ort der Lernerfahrung mit der griechischen Frau und dem Ort, an dem wir uns jetzt im Predigttext befinden. Jesus bleibt auf dem Weg. Und immer vor der Herausforderung, ins Gebiet jenseits des Vertrauten zu geraten. Jesus befindet sich außer Landes. Jesus wird hier selber zum Ausländer.

Ein Mensch wird zu ihm gebracht. Er kann nichts hören. Und er kann nur sehr schlecht sprechen. Jesu Ruf war seiner eigenen Grenzüberschreitung schon zuvorgekommen. Auch hier außer Landes gibt es Menschen, die mit den heilenden Kräften von Jesus rechnen.

Er hat heilende Hände, haben die Menschen gehört. Jesus soll auch diesem Menschen die Hand auflegen. Jesus wählt einen anderen Weg. Überschreitet auch hier die Grenzen. Die Grenze der Höflichkeit, indem er die Menschen nicht anblickt und nicht anspricht. Stattdessen schaut er zum Himmel. Dahin, woher er dennoch Gutes zu erwarten hat in dieser ansonsten fremden Welt.

Er übertritt die Grenze des zu respektierenden Abstandes zwischen Menschen. Er legt seine Hände dahin, wo die Erkrankung ihren äußeren Ort hat. Er legt die Hände an die Ohren und er berührt die Zunge.

Wie Jesus selber ausspuckt, so soll der Langzeiterkrankte seine Krankheit ausspucken. „Hephata“!“, sagt er dazu: „Öffne dich!“ Nicht wie einer, der sich seiner Sache sicher ist. Er seufzt diese Worte aus sich heraus, heißt es im Bericht. Doch der Erfolg bleibt nicht aus. Die Ohren werden frei zum Hören, die Fesseln des Mundes werden gelöst. Der bisher eingeschränkte Mensch ist gesund!

Außer Landes ist Jesus. Und doch zu Hause. Außer Landes, was die Grenzen angeht. Aber nicht außerhalb des Bereiches, in dem Gott seine Wirkung entfaltet. Für Jesus gibt es kein Ausland. Kein Land, in dem es aus wäre mit den großen Möglichkeiten Gottes.

Kein Wunder, dass die Menschen das merken. Und dass sie dabei sind, Jesus auf den Thron zu setzen. Er soll die Lücke füllen, die sie innerlich freigehalten haben für denjenigen, der ihre Wünsche und Hoffnung erfüllt. Jesus – auch außer Landes wird er zum Hoffnungsträger.

Und erneut geschieht, was wir in den Evangelien immer wieder lesen. Kein „Tue Gutes und rede darüber!“ Kein weiteres Beispiel auf der Liste von good practise, wie das heute allenthalben üblich ist. Vielmehr sagt er: „Kein Wort darüber!“ Keinen Satz darüber in der Öffentlichkeit. Keine Berichterstattung, keine Presse würden wir heute sagen.

Diese Aufforderung - sie bringt nicht nur die Ausleger des Textes zum Rätseln.

Sollen die Menschen noch schweigen – bis dann, wenn Jesus das Rätsel um seine Identität endgültig lüftet? Aber jedes Wunder lüftet diese Identität aufs Neue.

Sollen die Menschen schweigen, um Jesus vor der Überforderung zu schützen, noch viele andere Menschen gesund machen zu müssen?

Sollen die Menschen schweigen, um kein Aufsehen zu erregen, das die römischen Besatzer auf den Plan ruft? Immerhin befindet er sich hier ja im Ausland.

Ich selber folge einer anderen Spur. Jesus hat keinerlei Interesse daran, zum – wie wir heute sagen würden – religiösen Mega-Star zu werden. Jesus handelt nicht aus eigener Geltungssucht, sondern um Gottes und um der Menschen willen.

Der Geheilte kann wieder sprechen. Und die Heilung spricht für sich selber. Fremd muss uns dieses Denken Jesu erscheinen, wo wir so gerne darauf aus sind, unsere Wohltaten nicht unter den Scheffel zu stellen.

Im Glaubensbekenntnis von Dietrich Bonhoeffer gibt es einen Satz, der gut zu diesem Verhalten Jesu passt. Wir haben ihn vorhin miteinander gesprochen: Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.

Unglaublich tröstlich und ermutigend finde ich diesen Satz: Auch er hebt eine Grenze auf. Er hebt die Grenze auf zwischen den Geschichten unseres Gelingens und denen des Scheiterns. Beide fallen unter dem weiten Horizont Gottes in eins zusammen. In beiden stehen wir unter dem Vorbehalt, dass Gott auch aus dem Bösen Gutes entstehen lassen kann und will.

Anders könnte ich nicht leben. Nicht mein eigenes kleines Leben, in dem ich versuche, das Beste aus dem zu machen, was mir vor die Füße fällt. Und in dem ich doch immer wieder an meine Grenzen stoße.

Anders könnte ich nicht leben, wenn ich die tagtäglichen Nachrichten höre und sehe. Die aus Kabul, wo Menschen ihr nacktes Leben davontragen wollen. Und wir die Folgen unseres offensichtlichen Scheiterns sinnfällig vor Augen geführt bekommen.

Anders könnte ich nicht leben, wo doch die Folgen der Klimaveränderung bei uns immer noch viel zu wenigen den Schlaf rauben, während anderen das Leben geraubt wird in Feuer und Flut.

Nein! Anders möchte ich auch nicht leben. Nicht anders, als im Vertrauen, dass Gott keine Angst davor hat, Grenzen zu überwinden. Auch die Grenzen meines Kleinglaubens. Der heutige Predigttext hat uns diese Grenzüberschreitung am Beispiel des Verhaltens Jesu anschaulich vor Augen geführt. Außer Landes ist er – und doch ganz nah an der Quelle seines Redens und seines Handelns. Für Gott gibt es kein Ausland. Für Gott gibt es keine Grenzen! Das lässt mich leben.

Nein, wir sind noch lange nicht am Ende. Auch nicht in diesen turbulenten Tagen. Dass Jesus auch außer Landes Augen und Ohren zu öffnen versteht - kein Wunder, wenn es uns Hören und Sehen vergehen lässt. Das wäre in diesem Fall nicht das Schlechteste. Bis es kein Halten mehr geben wird, um der neuen Welt sichtbar Ausdruck zu verleihen. Und unübersehbar Raum zu geben – mitten unter uns. Mitten in dieser Welt. Weil alle es hören und sehen können. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.