Predigt über Jesaja 38,9-20 am Sonntag, den 10. Oktober 2021 (19.S.n.Tr .) in der Heiliggeistkirche in Heidelberg

10.10.2021

Liebe Gemeinde!

Hiskia ist kein Einzelfall! Sein Lied ruft mir in Erinnerung, was ich erst vor Kurzem gelesen habe:

Nun ist es schon zwei Wochen her, dass ich meinen Wecker auf 4:45 Uhr morgens stellte und eine Frühschicht lang als „Praktikant“ auf einer Intensivstation antrat.

So beginnt die Schilderung einer Schicht mit besonderen Erfahrungen auf einer Intensivstation. Vor zwei Tagen war der ausführliche Bericht in der Zeitung zu lesen. Der Schauspieler Jan Josef Liefers beschreibt dort, was er auf der COVID-Station erlebt hat. Im Frühjahr hatte er sich kritisch zu den Schutzmaßnahmen des Staates geäußert. Deswegen war er eingeladen worden, eine Intensivstation zu besuchen. Liefers hat sich darauf eingelassen. – Er schreibt weiter:

Sieben Patienten lagen an diesem Tag mit Covid-Pneumonie dort, alle im künstlichen Schlaf, alle intubiert und maschinell beatmet.

Alle Covid-Patienten hier auf Intensiv waren schwer erkrankt, dem Tod näher als dem Leben. Alle jung, von 28 bis 48 Jahre alt. (…). Auch die beiden hochschwangeren Frauen, deren Kinder per Not-OP geholt wurden und leben, während die Mütter es nicht geschafft haben, wie ich inzwischen weiß.

Aber warum es am Ende manche derart hart erwischt, warum ausgerechnet ihnen die Virusinfektion so großen Schaden zufügt, sie an den Rand ihrer Lebenskraft bringt, während die meisten anderen die Erkrankung gut wegstecken, mit oft nur milden oder gar keinen Symptomen, das ist noch unklar.

Soweit aus dem Anfangsteil des Berichtes. Als Einblick in eine – Zitat -  bisweilen unbarmherzige Lotterie des Lebens beschreibt Liefers seine Erfahrungen. Die einen schaffen es. Die anderen nicht.

Hiskia, dessen Lied wir eben gehört haben, spielt mit in dieser Lotterie. Er landet auf Intensiv. Ihm wird klar: „In der Mitte meines Lebens muss ich dahinfahren zu des Totenreiches Pforten bin ich befohlen.“  Es ist erstaunlich, wie poetisch Hiskia seine Situation beschreibt: „Meine Hütte ist abgebrochen und über mir weggenommen wie eines Hirten Zelt.“ Oder ein anderes Bild: „Zu Ende gewebt habe ich mein Leben wie ein Weber. Er schneidet mich ab vom Faden.“

Hiskias Lebensfaden droht zu reißen. Genauso wie der Faden, an dem sein Glaube hängt. Hauchdünn ist er. Aber noch hält er. „Meine Augen sehen verlangend nach oben. Herr, ich leide Not, tritt für mich ein. Was soll ich reden und was ihm sagen? Er hat‘s getan.“

Keine Lotterie also – zumindest für Hiskia. Für Hiskia ist es Gott, der die Lebensfäden hält – oder sie abreißen lässt.

Hiskia wendet sich an Gott. Mit Hiskia nehmen wir seine Klage auf. Stellvertretend für die, die nicht klagen können. Wir singen:

 NL 4,1
Aus der Tiefe rufe ich zu dir:
Gott, höre meine Klagen,
aus der Tiefe rufe ich zu dir:
Gott, höre meine Fragen! (2mal)

Hiskia möchte ich nicht sein. Zumindest nicht in dieser Extremsituation. Trotzdem: Hiskia ist ein Erfolgsmensch. Was er tut, gelingt ihm. Gott lässt es ihm gelingen. Hiskia ist König im kleinen Königreich Juda, mit Jerusalem als Hauptstadt. Wir kennen seine Regierungsdaten. Er ist König von 725 bis 696 vor Christus. 29 Jahre lang.

Vor allem zwei Ereignisse führen dazu, dass er in der biblischen Chronik ein selten gutes Zeugnis ausgestellt bekommt. „Hochgeachtet“ sei Hiskia „in den Augen der Völker. Barmherzig seine Taten. Mit allen Ehren wird er begraben. Nur wenige Könige bekommen eine derart glänzende Beurteilung.

Wie kommt Hiskia dazu? Zum einen ist er militärisch erfolgreich. Er, der kleine Provinzkönig, wagt den Aufstand gegen den übermächtigen Herrscher Sanherib, den Großkönig von Assyrien. Und Hiskia gewinnt. Dem babylonischen König gelingt es nicht, Jerusalem einzunehmen. Eine Sensation ersten Ranges.

Zum anderen stärkt er die überkommene Religion, den Jahwe-Kult. Er drängt die religiösen Konkurrenzangebote zurück.  So wird Hiskia eine wichtige Figur in der Geschichte des Ein-Gott-Glaubens.

Hiskia verschafft seinem kleinen Land eine Verschnaufpause. Und die Wirtschaft boomt. Wenn es den Menschen wirtschaftlich gut geht, sind sie fürs Erste zufrieden. Das war schon vor zweieinhalbtausend Jahren so.

Am Ende hat er gut singen. Dazu gleich mehr. Am Anfang bleiben ihm die Töne im Hals stecken. Wir sind Hiskia nah, wenn wir singen wie er. Sein Lied nehmen wir auf mit der zweite Strophe des angefangenen Liedes:

NL 4,2
Aus der Tiefe rufe ich zu dir:
Gott, öffne deine Ohren,
aus der Tiefe rufe ich zu dir:
Ich bin hier ganz verloren. (2mal)

 

Hiskia, so scheints’s wird aus der Erfolgsspur gerissen. Was für eine Dramatik! Die Kugel rollt. Die Lotterie ist in vollem Gange. Hiskia, der Erfolgreiche wird krank. Wir wissen nicht genau, was er hat. Von Geschwüren ist die Rede. Es ist eine Krankheit zum Tode. 14 Jahre ist Hiskia schon König. Immerhin. Aber das war‘s dann auch. Jesaja, der große Prophet taucht bei ihm auf: „Bestelle dein Haus. Denn du wirst nicht am Leben bleiben!“

Immer wieder trifft es die, die doch gar nicht an der Reihe sind. Viel zu oft sind es die, Menschen, die wir doch brauchen, die viel zu früh gehen müssen. Immer wieder gehen - so kommt‘s mir vor -  die Besten uns am schnellsten voraus.

Hiskia findet es selber ungerecht. Er greift zum letzten Mittel. Er erinnert Gott an seine Verdienste. „Ach, Herr, gedenke doch, wie ich vor dir in Treue und ungeteiltem Herzen gewandelt bin und getan habe, was dir gefällt.“

Hiskia leistet Widerstand. Wie später beim babylonischen Großkönig. Hiskias Psalm ist kein Abschiedslied. Es ist ein Lied des Widerstands. Und Hiskia hat Erfolg. Jesaja erscheint zum zweiten Mal im Palast. „Ich habe dein Gebet gehört und deine Tränen gesehen. Ich will deinen Tagen noch 15 Jahre dazugeben!“

Hiskia, der Erfolgsmensch. Auch bei Gott. In der unbarmherzigen Lotterie des Lebens zieht er den Hauptgewinn. 15 weitere Jahre geschenkten Lebens.

Ich kenne Menschen mit solchen geschenkten Jahren. Dankbar beginnen sie jeden neuen Tag. Viel mehr Menschen kenne ich, denen diese Jahre nicht geschenkt wurden. Menschen, deren Faden gerissen ist. Todesnachrichten von Menschen, die noch so gerne gelebt hätten. Alleine in der zurückliegenden Woche wieder zwei neue schwarzumrandete Botschaften, die mich erreichen. Ist Gott bei den einen? Und den anderen bleibt nur der Klageruf des 22. Psalms: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

NL 4,3
Aus der Tiefe rufe ich zu dir:
Gott. achte auf mein Flehen,
aus der Tiefe rufe ich zu dir:
Ich will nicht untergehen. (2mal)

 

Von Hiskia will ich lernen. Mindestens dreierlei kommt mir dabei in den Sinn. Ein Viertes suche ich dann zu finden ohne seine Hilfe.

Zuerst: Hiskia willigt nicht einfach ein. Er wehrt sich. Er kämpft. Er leistet Widerstand. Und nimmt auch Gott nicht davon aus. „Die Toten loben dich nicht!“, ruft er Gott zu. „Sondern allein die, die leben!“ Hiskia, der Gottesrebell.

Ein zweites, von den Auslegern durchweg nicht gewürdigt. Hiskia Vertraut der Vernunft. Ganz konkret: Er traut der Kunst der Medizin. Er wartet nicht einfach nur auf ein Wunder. Er ist kein Verweigerer vernünftiger Heilmittel. Ein Feigenpflaster bringt die Rettung. Ich habe einfach mal nachgeschaut, welche Heilwirkung der Feige zugeschrieben wird: Sie wirkt gegen Entzündungen und Ekzeme. Soll sogar das Wachstum verschiedener Krebszellen hemmen können. Das Feigenpflaster wirkt. Auch gegen die tödlichen Geschwüre des Hiskia. Was für ein naturheilkundliches Wissen schon vor zweieinhalbtausend Jahren!

Und ein Drittes: Es ist Hiskias unbändige Dankbarkeit. Nein, kein business as usual nach der unerwarteten Rückkehr ins Leben. Stattdessen: Dank! Und wieder diese schönen Worte: “Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe.“

Die letzten 15 Jahre – sie sind geschenkte Jahre. „Darum wollen wir singen und spielen ein Leben lang.“ Die geschenkten Jahre sind geliehen Jahre. Hiskia gibt zurück. Nach seinen Möglichkeiten. Aber im Bewusstsein, alles hätte auch anders kommen können. Kein Wunder, dass Hiskia keine andere Wahl hat, als zu singen.

Wir wissen, Hiskia hat dieses Lied ist nicht geschrieben. Es war schon als Lied im Umlauf, als die Geschichtsschreiber Hiskias Leben beschreiben und festhalten wollen. Aber das Lied passt zu Hiskias Leben. Und der Geschichte seiner überwundenen Krankheit.

Hiskia, der singende König - er hat, aus unserem Blickwinkel, vor allem einfach auch Glück gehabt. Sein Faden hat gehalten. Seine Lotteriekugel ist ins rechte Loch gefallen. Ein viertes und Letztes führt uns über Hiskia hinaus.

Die Vorstellung eines Lebens jenseits unseres Lebens, der Glaube daran, auch mit dem Tod nicht tiefer fallen zu können als in Gottes Hände – Hiskia konnte ihn zu seiner Zeit nicht teilen.  Mit den Menschen seiner Zeit teilt er stattdessen die Überzeugung: Nach dem Tod bleibt dem Menschen ein Schatten-Dasein, ein finsterer Ort, an dem kein Leben ist. Nach dem Tod bleibt nur die Gottesfinsternis - auf ewig.

Ein halbes Jahrtausend später, im zweiten Jahrhundert vor Christus, taucht im Land des Hiskia eine andere Vision auf. Die Ungerechtigkeit grausamer Herrscher lässt die Menschen nach den Opfern fragen. Genauer gesagt nach dem Recht der Opfer. Es muss doch einen Ausgleich geben, fragen sich die Menschen. Die Macht des Bösen kann nicht auf ewig triumphieren. Und das an Menschen begangene Unrecht muss einen Ausgleich finden. Das Leben kann mit dem Tod nicht zu Ende sein.

Wer nicht das Glück hat wie Hiskia, wer nicht gewinnt in der unbarmherzigen Lotterie – in die Gottferne fällt er oder sie nicht! Christlicher Glaube begründet eine geliehene, ja am Ende auch eine geschenkte Hoffnung. Die Hoffnung auf bleibendes Aufgehobensein in Gott. Am Ostermorgen machen wir diese Hoffnung fest. Und stehen dabei doch in bleibender Verbindung mit dem Glauben derer, die uns erst verstehen gelehrt haben, was Auferstehung meint.

„Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen!“ Jesus aus Nazareth sagt diesen Satz immer wieder. Er sagt ihn dann, wenn der Glaube Menschen ins Leben zurückgeholt hat. Auch 15 geschenkte Jahre – wie bei Hiskia – sie sind kein Leben für immer. Solches Leben liegt quer zu unserer Zeit. Solches Leben gründet sich in dem, was wir Glauben nennen. Solches Leben liegt verwurzelt in der Gewissheit, dass Leben allemal Geschenk ist. Diesseits und jenseits der Grenze des Todes.

Leben – so verstanden – ist keine vage Aussicht. Es hängt nicht am seidenen Faden. Es ist verankert in der Gewissheit, dass ein anderer hält, was wir nicht halten können. Und dass am Ende nur das Singen bleibt. Hier wie bei Hiskia – und dann bei Gott für immer. Amen.

NL 4,4
Aus der Tiefe rufe ich zu dir:
Nur dir will ich vertrauen,
aus der Tiefe rufe ich zu dir:
Auf dein Wort will ich bauen. (2mal)

 

 

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.