Predigt über Genesis 50,15-21 im Rahmen der Unisono-Predigtreihe in der Evangelischen Kirche in Dossenheim

27.06.2021

Unisono – liebe Gemeinde! Einstimmig! Das ist das Motto der Jubiläumsfeierlichkeiten der Evangelischen Landeskirche in Baden. Und gemeint ist damit: Seit 200 Jahren singen lutherische und reformierte Christinnen und Christen nicht mehr getrennt, sondern zusammen. Aber zusammensingen muss nicht einstimmig singen heißen. Nur zusammen kann man ja auch wunderbar mehrstimmig singen. Darum soll’s gehen in der Predigt in diesem Gottesdienst.

Zusammenzugehören – und doch auch eigene Wege gehen – dafür ist eine Familie ein wunderschönes Bild. Geschwister können sehr unterschiedlich sein. Und die Kinder entwickeln sich oft in eine ganz andere Richtung als die, die wir ihnen als ihre Eltern vorgeben und vorleben wollten.

Ich weiß sehr genau wie das ist. Als Jüngster von sieben Geschwistern. Und als Vater von fünf Kindern. Familien sind sehr komplizierte Systeme. Aber selbst in Konflikten, bleibt spürbar: Wir gehören zusammen! Vielleicht auch: Wir kommen nicht voneinander los. Das zu wissen, ist nicht schon die Lösung. Aber es erhöht den Druck hin zur Einsicht, immer wieder eine Lösung finden zu müssen.

So war‘s also in Baden mit den Lutherisch-Wittenbergischen. Und den Reformiert-Schweizerischen. Nicht erst seit 200 Jahren. Schon im 16. Jahrhundert, dem Reformationsjahrhundert war‘s so. Die Reformation – sie ist eine Tochter der Emanzipationsbewegungen, die schon einige Jahrzehnte am Brodeln sind, als die Reformation beginnt. Um Freiheit geht’s da. Um Widerstand gegen die Vorherrschaft der Kirche und gegen eine willkürliche Obrigkeit, die die Menschen aussaugt.

„Ein Christenmensch ist ein freier Mensch und niemandem untertan!“ So schreibt Luther dann im Jahre 1520. Die unterdrückten Bauern haben das mit großen Ohren und wachem Geist gehört. Und sind mit Feuer und Schwert in die Schlacht gezogen. Bis Luther es mit der Angst zu tun bekommt und sie den Fürsten ausliefert. Das ist mehr als nur ein großer Familienkrach. Das ist fast schon wie bei Kain und Abel. Der eine liefert den anderen ans Messer.

Und die Reformation gerät in Gefahr, ihre eigenen Kinder zu fressen. Die Tochter aus der Schweiz, die Reformierte, und der Sohn aus Wittenberg, der Lutherische, weigern sich schon ab dem Jahr 1529 gemeinsam an einem Tisch zu sitzen. Zwölf Jahre nach der Geburt im Oktober 1517 sind die Kinder in Marburg mit dem Versuch, die familiäre Einheit zu erhalten, kläglich gescheitert. Sie bleiben fürs Erste unsäglich zerstritten.

Sie streiten sich, ob der, der sie einlädt, wirklich mit am Tisch sitzt. Oder ob er sich nur in Erinnerung bringt. Sie wissen‘s oder ahnen‘s: Ums Abendmahl geht der Streit. Und um die Weise, wie man sich die Gegenwart Christi dabei vorstellt. Der Streit geht dann bald auch um die Politik: Wieviel Nähe zur Obrigkeit ist erlaubt? Wieviel Widerstand ist möglich und nötig?

Dreihundert Jahre Streit in der Familie sind genug. Jetzt wird‘s höchste Zeit, dass wir neu miteinander anfangen. Ehrbare Bürgerinnen und Bürger hier in der Kurpfalz denken so. Sie haben die Nase voll vom Familienknatsch. Und Ludwig I., der badische Großherzog genauso. Die Familie muss an einen Tisch. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die Familie muss in die Familientherapie. Sie braucht Familienberatung.

Vereint im Glauben, befreundet mit allen
Christen und Christinnen. Gott mag‘s gefallen!
Was die Mütter und Väter uns übergeben,
wird Zeichen des Aufbruchs, Kirche neu zu leben.

Vereint im Glauben, nicht durch Lehre getrennt -
weil in neuem Geist das Licht der Wahrheit brennt      -,
wagt die Synode im Entscheiden und Schweigen
der Welt ihren Willen zur Einheit zu zeigen.     

Jetzt kommt der Predigttext für heute ins Spiel. Er ist nicht ausgesucht für einen Festgottesdienst zum Unionsjubiläum in Baden. Aber er passt trotzdem wunderbar.

Auch eine Familiengeschichte. Und was für eine! Womöglich könnte sie helfen, den reformatorischen Geschwisterstreit besser zu verstehen. Im Text, um den es geht, sitzen gleich zwölf Geschwister mit am Tisch. Vielleicht auch noch mehr. Aber die Bibel verrät uns - außer der Tochter Dina - nur die Namen der Söhne. Patriarchalische Zeiten waren das. Und ein Patriarch im wahrsten Sinn des Wortes, Jakob, hält die Familie mit eiserner Macht zusammen.

Das muss er auch. Denn die älteren Brüder verkaufen den damals Jüngsten. Sie liefern ihn auch ans Messer. Denn sie wissen: Die Zeit als Sklave in der Fremde wird Joseph nicht überleben. Aber sie können ihre Hände dann in Unschuld waschen. Meinen sie jedenfalls.

Aber alles kommt ganz anders. Der, den sie drangeben, macht in der Fremde Karriere. Und rettet seine Familie am Ende vor dem Verhungern. Jakob hält die Familie zusammen. Bis er stirbt. Jetzt müssen die zwölf Geschwister selber regeln, was der Vater mit Macht unter dem Deckel gehalten hat. Hier setzt der Predigttext ein. Er steht im 1. Buch Mose im 50. Kapitel:

Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte.

Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Ewig kann man eine familiäre Dynamik nicht unterdrücken. Unter dem Deckel halten. Und Unisono, das geht in einer Familie schon gar nicht. Eine Familie lebt von der Vielfalt. Für die Söhne des Patriarchen Jakob gilt das. Genauso wie für die Kinder der Mutter Reformation. Josephs Brüder ahnen: Jetzt muss alles auf den Tisch. Unisono hilft jetzt nicht mehr weiter.

Mindestens dreistimmig ist ihr Familienchor. Da sind die mittlerweile ergrauten älteren Brüder. Die, die Joseph damals verkauft haben. Da ist der Jüngste, Benjamin, der erst geboren wird, als Joseph längst weg ist. Er ist eigentlich weder Täter noch Opfer. Aber dennoch höchst betroffen. Und da ist Joseph. Einst der Schwächste. Und jetzt der, der alle Fäden in seiner Hand hält. Der, der die Macht hat.

Die älteren Brüder haben sich eine Strategie zurechtgelegt. Vielleicht stammt die Idee wirklich noch vom Vater Jakob, Ruben, dem Ältesten auf dem Sterbebett ins Ohr geflüstert. Vielleicht haben sich die Brüder auch beraten lassen, von einem, der sich in der Konfliktberatung auskennt. Die Tradition der Weisheit in Ägypten war ausgezeichnet und weit über die Grenzen hinaus bekannt. Womöglich haben sie den Plan selber ausgeheckt. Aber sie berufen sich dabei auf eine Idee in der Tradition des Vaters.

„Vergib doch deinen Brüdern die Missetat!“ Dass da etwas im Raum steht, das der Klärung bedarf – sie können es nicht länger verschweigen. Sie benennen mutig, worum es geht. Und sie machen Joseph einen Vorschlag, damit umzugehen. 

Dieses Mal versuchen sie es mit einer Klärung. Nicht wie damals, vor Jahrzehnten, mit einem Verbrechen. Auch die Brüder sind reifer geworden.

Doch für Joseph gilt das auch. Er weiß, es ist seine Familie. Und die verschiedenen Töne haben bislang eher einen Missklang hervorgerufen. Er setzt nicht auf Unisono. Er setzt auf die Vielfalt. Aber eben: vielfältig eins.

Joseph setzt nicht auf die Karte der Macht. So wie’s sein Vater getan hätte, der Patriarch. Er setzt, wenn überhaupt, auf die Macht eines anderen. Joseph initiiert den Perspektivwechsel. Joseph bringt Gott ins Spiel. Gegenüber Gott befinden wir uns doch alle in derselben Position. „Stehe ich denn an der Stelle Gottes?“, fragt er lapidar. Und weiter: “Ihr gedachtet es böse zu tun. Aber Gott gedachte es gut zu tun!“

Joseph weiß: Die Lösung liegt im Machtverzicht. Die Lösung liegt darin, mit dem Kapital des Vertrauens zu arbeiten. In diesem Fall dem des Gottvertrauens. Vielstimmig untereinander. Aber unisono, einstimmig gegenüber Gott. Joseph wusste: Am Ende gehören wir alle gemeinsam, zu seiner großen Familie. 

Jetzt wieder einen Szenenwechsel. Hin zur anderen Familiengeschichte. Zur reformatorischen. Endlich sitzen die beiden Kinder an einem Tisch. In der Karlsruher Stadtkirche. Im Ständehaus. In der Theologischen Fakultät in Heidelberg. Unisono ist das nicht. Noch nicht. Aber der Missklang wird leiser. Die Polyphonie, der Vielklang wird zur Harmonie. Und am Ende – am Ende steht nicht das Finale grande. Am Ende steht die Generalpause.

In Frage und Antwort einigt man sich, wie es am Abendmahlstisch künftig zugehen soll. Aber nicht mit der Kraft der Logik und Rhetorik. Vielmehr mit dem Glauben an das Wirken des Heiligen Geistes. Das Abendmahl bleibt ein Geheimnis des Glaubens. Daher lässt der Leiter der versammelten Generalsynode, Carl Christian Freiherr von Berckheim, nicht abstimmen. Er wartet, ob es noch Widerstände gegenüber dem Kompromiss gibt. Nach fünf Minuten Schweigen erklärt er den Kompromiss für angenommen. Gottes Gegenwart – erlebbar im Schweigen der Synode.

Es ist der Machtverzicht, der zur Einheit führt. Es ist der Verzicht darauf, die Vielfalt des Glaubens aus den Herzen der Menschen vertreiben zu wollen. Im Verzicht darauf, die Vielfalt aus der Welt schaffen zu wollen, liegt das Geheimnis des Weges zum Unisono. 

Das fünfminütige Schweigen der Generalsynode bringt zum Ausdruck, was Joseph gegenüber seinen Brüdern in Worte fasst: „Stehen wir denn an Gottes Stelle?“

Die zerstrittenen Kinder der Reformation finden auch in Baden zurück an einen Tisch. Wie vorher schon in der Pfalz. In Hessen. In Preußen. Die Beziehung der Geschwister bleibt lebendig. Spannungsreich. Muss gestaltet werden. Aber Gemeinschaft ist wieder möglich.

Über Jahrzehnte noch haben die Geschwister mit sich zu tun. Gestalten das Markenzeichen des Protestantismus. Seine ihm von Anfang an eingestiftete Vielfalt. In Gottesdienstentwürfen. Liturgien. Agenden. In Lehrbüchern des Glaubens. Im Katechismus.

Und sie haben lange nicht im Blick, dass da auch noch andere Geschwister an den Tisch gehören. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Baden etwa – von der ich gar nicht weiß, ob Sie wissen, dass es sie gibt. Eine Schwester des Bruders aus Wittenberg, die sich an der Union nicht beteiligen wollte. Aus Glaubensgründen nicht beteiligen konnte. Eine kleine Kirche aus sechs Gemeinden. Mitten unter uns in Baden. Ich habe am vergangenen Sonntag in der Karlsruher Gemeinde dieser kleinen Kirche predigen dürfen. Tief bewegt war ich zu spüren, dass auch hier Bewegung in die Familie kommt. Ein kleiner Vorgeschmack, dass auch in diesem Vielklang ein Unisono möglich sein könnte.

Vereint im Glauben an den Tisch geladen,
sind Brot und Wein Zeichen der Hoffnungstaten
des einen, der will, dass wir fürsorglich handeln
und die Schöpfung in Gottes Garten verwandeln.

Vereint im Glauben seit zweihundert Jahren,
als Menschen mutig im Aufbrechen waren,      
sind wir, die wir vielstimmig Kirche gestalten
noch immer im Glauben gestärkt und gehalten.

Noch einmal ein Szenenwechsel. Noch einmal zurück zu Joseph. „Fürchtet euch nicht!“ Joseph sagt das zu seinen Brüdern. „Fürchtet euch nicht!“ Der Engel sagt das zu den Hirten auf dem Feld. „Fürchtet euch nicht!“ Jesus sagt das, als er den Seinen auf dem Wasser entgegenkommt. Und als die Wogen ins Schiff zu schlagen drohen.

Vor dem Vielklang muss uns deshalb nicht bange sein. Und wer da alles einstimmen darf und einstimmen soll – auch über die Grenzen unserer Kirche hinaus. Womöglich auch über die Grenzen der Kirche überhaupt hinaus – das dürfen wir getrost dem überlassen, der will, dass wir an einem Tisch zusammenfinden.

Vielstimmig darf unser Reden und Singen bleiben – vielstimmig auch unser Feiern, wenn wir nicht aus dem Herzen verlieren, dass wir zusammengehören als die eine große Familie Gottes – bis Gott uns irgendwann sein himmlisches Unisono hören lässt.  

In versöhnter Verschiedenheit wie bei Joseph und seinen Brüdern.

In Einheit und Vielfalt wie bei den Altvorderen unserer badischen Kirche vor zweihundert Jahren.

In der Hoffnung, dass uns die Liebe Christi zur Einheit drängt, wenn wir uns versammeln zur Weltversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe in einem Jahr.

Bis Gott uns sein Unisono hören lässt für immer. Bis dahin aber leben wir fröhlich und spannungsreich zugleich weiter – miteinander verbunden im Glauben als Angehörige der einen Familie Gottes und gemeinsam eingeladen, und wie bei Joseph geschwisterlich versöhnt – aber allemal ein am Tisch des Herrn. Amen.

Vereint im Glauben zum Feiern geladen
sind wir mit Lust evangelisch in Baden,
wollen Kirche im Geist der Ökumene sein.
Christi Liebe drängt uns und lädt zur Einheit ein.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.