KLARTEXT zum 13. Sonntag nach Trinitatis für ZEITZEICHEN 8/2022

11.09.2022

Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn. (Lukas 10,33)

Bei der gängigen Lesart dieses biblischen Klassikers komme ich immer gut weg. Die frommen Wichtigtuer lassen die Opfer links liegen. Ich fühle mich vom Samariter gut vertreten. Einer, den die anderen längst aussortiert haben. Und der hier tut, was doch das Selbstverständlichste auf der Welt ist. So weit. So fragwürdig. Weiß ich, ob der Priester gerade jemand anderem zu Hilfe eilt. Oder ob der Levit den Wegelagerern kurz zuvor nicht selber gerade noch rechtzeitig entkommen ist. Beide haben sie eine Entscheidung getroffen, die sie in meinen Augen vor allem deswegen diskreditiert, weil ich ihre Beweggründe nicht kenne. Und weil sie sich nicht so verhalten, wie es sich aus meiner begrenzten Einsicht heraus nahelegt.

Der Samariter bietet sich als Projektionsfläche für alle und alles an, was der kritisch beäugten etablierten Weltsicht widerspricht. Er ist der Unterdog, der weiß, was sich gehört und wer die nächste hilfsbedürftige Person ist. Er ist der barmherzige Menschenfreund, der die nötigen Rettungsmaßnahmen einleitetet. Er ist der findige Gründer eines diakonischen Startups, der eine Kneipe zu einem Sanatorium umwandelt und sogar noch das nötige Startkapital zur Verfügung stellt.

Dabei könnten sich all diese Deutungen als Fehlschluss erweisen. Der Samariter ist der, von dem es heißt, dass es ihn „jammert“. Er ist der Prototyp des Menschen, der sich seine Empathie bewahrt hat. Dem zu Herzen geht, was die Lebensmöglichkeiten eines anderen Menschen reduziert und torpediert. Er ist einer, der weiß, dass das eigene Lebensglück am besten in eine gelingende Balance kommt, wenn es nicht auf Kosten eines anderen Menschen erkauft ist. So findet die Ausgangsfrage des Gesetzeslehrers nach dem Weg zum ewigen Leben am leichtesten zu einer einleuchtenden Antwort. Und der Samariter zu der Rolle, in der er mir am ehesten als Vorbild erscheint.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.