KLARTEXT zum 12. Sonntag nach Trinitatis für ZEITZEICHEN 8/2022

04.09.2022

Und sogleich fiel es von seinen Augen wie Schuppen, und er wurde wieder sehend; und er stand auf, ließ sich taufen. (Apostelgeschichte 9,18)

Auf den Stühlen der Welterklärer - ob in Talkshows oder anderen Formaten des öffentlichen Diskurses – sind viele der wissenschaftlichen Zünfte vertreten: Psychologie und Soziologie, Philosophie und Medizin, Recht und Politik. Völlig zurecht bedient man sich deren Kompetenz. Kirche und Theologie wissen es wahrhaftig nicht immer besser. Die negative Begleiterscheinung dieses Trends: Immer seltener sind Menschen aus der Theologie in solche Runden eingeladen. Die säkulare Öffentlichkeit drängt die Theologie, wenn nicht an den Katzentisch, dann doch immer öfter zurück hinter die Kirchenmauern.

Ob die Praxis des Hananias heute auch noch so erfolgreich funktioniert? Mir springt ein offensichtlich erfolgreicher Dreischritt ins Auge! Erstens: Hananias legt die Hände auf. Er legt nicht einfach nur den Finger in die Wunde. Seine Aktion geschieht nicht einfach in erhellender, sondern auch in heilsamer Absicht. Worte und Gesten, die berühren, sind ein rares, aber überaus begehrtes Gut. Zweitens – und das fasziniert mich am meisten: Dem Fundamentalkritiker Saulus fällt es wie Schuppen von den Augen. Er verändert seine Perspektive, dreht sie im Grund um 180 Grad und findet zu einer neuen Weltsicht. Darauf also kommt es am Ende an: Nicht einfach das Bild, das die anderen malen, auch noch mit meinem Zungenschlag einzufärben. Nein, davon träume ich, dass Menschen einen Weg finden, die alte Welt mit den Augen des neu belebten oder neu gewonnenen Glaubens neu sehen zu lernen. Paulus beendet – das ist das Dritte - seine ihm auferlegte Lethargie, steht auf und lässt sich taufen. Er macht sich mit seiner Weltsicht wahrnehmbar. Wie wir wissen auch in hohem Maße angreifbar. Er gestaltet sein Leben als ständigen Bekenntnisakt. Er wird gelesen und kritisch diskutiert – bis heute. Und ich bin mir sicher: Er könnte sich vor Einladungen in Talkshows nicht retten.

 

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.