Predigt über Kolosser 3,12-17 am Sonntag, 15. Mail 2022 (Kantate) in der Stadtkirche in Karlsruhe

15.05.2022

Liebe Gemeinde!

Und plötzlich schien der Himmel ganz weit weg! Vor etwas mehr als zwei Jahren war das unsere Erfahrung. Damals! Am Beginn der Pandemie. Als wir alle plötzlich die Erfahrung machen mussten: Gottesdienstverbot. Fürs Erste auf jeden Fall.

Zwei Monate gottesdienstliches Schweigen. Von Mitte März bis Mitte Mai. Stattdessen ein Ausweichen auf andere Wege der Kommunikation. Predigten, in den Kirchen ausgelegt. Aufgehängt manchmal an Wäscheleinen oder verteilt in Briefkästen. Digitale Gottesdienstformate machen Karriere. Menschen feiern zu Hause auf dem Sofa. Mit einer Tasse Kaffee oder Tee vor sich auf dem Tisch und einer brennenden Kerze. Miteinander verbunden und doch auch irgendwie allein.

Der Himmel war irgendwie – wenn nicht weg, dann doch verstellt. Der Zugang erschwert. Ins Private verlagert. Am Sonntag Kantate vor zwei Jahren durften zum ersten Mal wieder Gottesdienste gefeiert werden. Mit Abstand. Und vor allem: Ohne zu singen! An Kantate. Schweigen an der Stelle, wo wir ansonsten im Singen den Himmel vorwegnehmen. Unvorstellbar.

Irgendwann in den 70er oder 80er Jahren des ersten Jahrhunderts schreibt ein Schüler des Apostels Paulus einen Brief. Eine Art frühchristliches Rundschreiben. Denn die Empfängerinnen und Empfänger in Kolossä in Kleinasien sollen den Brief weitergeben, wenn sie ihn gelesen haben. Nach Hierapolis. Nach Loadizea. In dieser theologischen Stellungnahme wird der Himmel beschrieben. Er wird gewissermaßen zum Programm erhoben.

Genauer gesagt: Den Menschen, denen dieser Brief vorgelesen wird, wird klar gemacht, dass sie nun nicht mehr unten leben, sondern oben. Im Himmel. Schon jetzt. Denn da schreibt der uns unbekante Autor folgende Worte:

Seid ihr nun mit Christus auferweckt, so sucht, was droben ist, wo Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist. Ihr habt den alten Menschen mit seinen Werken ausgezogen und den neuen angezogen, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Ebenbild dessen, der ihn geschaffen hat.

Suchen, was droben ist. Dort, wo die Einschränkungen des irdischen Lebens aufgehoben sind. Und wir den alten Menschen eingekleidet finden in ein neues himmlisches Gewand. Dort, wo es keine Gottesdienste mehr gibt. Sondern nur noch Leben in der Gegenwart Gottes für immer. Dort, wo wir keine Fragen mehr haben. Dort, wo unser Schweigen verwandelt wird in himmlische Klänge. Deshalb nehmen auch wir jetzt den Himmel vorweg und singen miteinander.

NL 121,1: Die Himmel erzählen … Ein Tag erzählt’s dem anderen …

Und plötzlich schien der Himmel ganz weit weg! Die Stadt Kolossä hat ihre Blütezeit längst hinter sich, als dort eine christliche Gemeinde entsteht. Münzen und Inschriften geben Hinweise auf eine bewegte Geschichte als Handelszentrum. Im Jahr 61 n.Chr. richtet ein Erdbeben großen Schaden an. Die Stadtgeschichte geht auch dann weiter.

Aber kaum jemand hier wüsste etwas von dieser Stadt, gäbe es diesen Brief nicht. Paulus wird als Autor genannt. Aber vermutlich hat einer seiner Schüler den Brief geschrieben. Zu groß sind – bei aller theologischen Nähe – die Unterschiede zu Paulus. Dass uns die Taufe gleichsam schon in den Himmel entrückt – das ist bei Paulus so nicht zu lesen. Für den, der in seinem Namen schreibt, steht dies allerdings nicht in Frage.

Der Briefschreiber ist eher so etwas wie ein Paulus-Enthusiast. Er zieht die theologischen Linien des Paulus eigenständig weiter. Mit großer Energie. Weit hinein in den ganzen Kosmos. Nicht nur die Erde, das ganze All, so lesen wir, ist der Herrschaftsraum Gottes. Kein Wunder, dass der Schreiber zu solchen Sätzen kommt. Die ganze Stadt Kolossä ist ein einziger religiöser Hotspot. Kaum eine Gottheit, deren Verehrung dort nicht nachzuweisen wäre.

Engel spielen in Kolossä schon lange eine Rolle. In der christlichen Gemeinde ist das dann der Erzengel Michael. Mit seiner Hilfe, so glaubt man, bräuchten die Menschen keinen Gegner mehr zu fürchten. An Michaels Seite ist der Weg frei hinaus in himmlische Höhen. Das Leben wird zur Erfolgsgeschichte. An den Menschen ist es, die Kleider des Erfolgs auch anzuziehen. Und das eigene Verhalten entsprechend anzupassen. - Der Briefschreiber fasst es in folgende Worte:

So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.

Es ist das Band dieser Liebe, an dem wir uns emporhangeln. Von unten nach oben. Vollkommenheit ist uns zugesagt. Und ein Leben unter neuen Vorzeichen. Von oben geprägt, nicht von unten. Vom Singen bestimmt. Nicht vom Schweigen. Davon lassen wir uns anstecken und singen die dritte Strophe:

NL 121,3: Die Himmel erzählen … Ein Wort, von Gott gegeben …

Und plötzlich schien der Himmel ganz weit weg! Vor noch nicht einmal drei Monaten wird uns das in unsere Seelen eingebrannt. Am 24. Februar. Da beginnt, was manche eine Zeitenwende nennen. Als Christenmenschen sollten wir sehr vorsichtig mit diesem Begriff umgehen. Die Zeitenwende, auf die sich der Kolosserbrief bezieht, kommt dem, was dieses Wort mein, eher nah als unsere politische Inanspruchnahme.

Aber Ungeheuerliches geschieht an diesem 24. Februar. Der Krieg kehrt nach 77 Jahren nach Europa zurück. Weil einem einzelnen Menschen irdische Machtgelüste wichtiger sind als ein erträgliches Miteinanderauskommen. Und ein verblendeter antimodernistischer Patriarch gibt auch noch seinen Segen dazu. Andere aus seiner Kirche – gottseidank – nicht. Das soll hier ausdrücklich auch gesagt werden.

An die Stelle des im Glauben ersehnten und vorweggenommenen Himmels tritt das Inferno. Ein ums andere Mal. Bomben fallen von oben nach unten. Von unten nach oben steigen unsere Gebete. Und noch mehr die Hilferufe der Menschen in der Ukraine.

Wo ist Gott in Mariupol und in Charkiw? In Butscha, Borodjanke und Kramatorsk? In Kiew und Odessa? Dass Gott da nicht ist, mag niemand von uns so recht glauben. Er leidet und wird hingerichtet. Ein ums anderes Mal. In jedem seiner Ebenbilder. Und ist doch bleibend unter den Menschen präsent.

Und in allen Rufen nach Waffen, höre ich wenig Rufe nach gelingender Diplomatie. Zu wenige. Nach Verhandlungen und einem schnellen Ende dieses Blutvergießens. Sucht, was droben ist, wo Christus sitzt. Der Appell verhallt manchmal fast ungehört im Getöse des Krieges. Der Bundeskanzler hat’s gestern ja wieder einmal versucht.

Der antike, frühchristliche Rundbriefschreiber trägt sein Eigenes dazu bei. Bei ihm lesen wir:

Und der Friede Christi, zu dem ihr berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar.

Gemeinsam in einem Leib berufen – orthodox, protestantisch und katholisch und wie auch immer religiöse unterwegs! Wie können Menschen dahinter zurückfallen. Wie kann ein Glied am Leib Christi, um es biblisch auszudrücken, anderen Gliedern ihr Recht auf das Sein absprechen!

Zum Frieden berufen sind wir – davon lassen wir uns nicht abbringen. Der Ruf nach Frieden, nach Frieden in der Ukraine, in Syrien, im Jemen, in Mali – das ist der Cantus Firmus, auch am Sonntag Kantate. Inmitten der verständlichen Rufe nach Unterstützung bei der Verteidigung von Land und Leben. Bei der Suche nach Auswegen aus allen Älbträumen. Beim Festhalten daran, dass Gott einst seinen bunten Friedensbogen in den Himmel gesetzt hat. – Demütig und geschwisterlich und in der Verbindung durch das Band der Liebe singen wir die vierte Strophe!

NL 121,4: Die Himmel erzählen … Ein Herz, in Gott geborgen …

Und mit einem Mal war der Himmel plötzlich ganz nah! Hautnah!Fängt plötzlich hier schon an, seine befreiende Wirkung zu entfalten. Hier unten auf der Erde. Nicht länger müssen wir den Himmel oben suchen. Er beginnt links und rechts von mir – mitten in meinem Leben.

Was Menschen klein macht – es ist seines Schreckens beraubt.

Die Macht des Bösen – sie fällt in sich zusammen. 

Die Kräfte, die uns hier unten dingfest machen wollen – sie können unseren Höhenflug nicht wirklich aufhalten. 

Unser Schweigen – unter der Hand wandelt es sich in den dankbaren Lobgesang der Engel. Der Verfasser des urchristlichen Rund-Schreibens nach Kolossä, Hierapolis und Laodicea – er beginnt zu singen. Und er mahnt uns:

Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.

Gesungene Worte sind das! In der bekannten Weise, in der Dietrich Buxtehude sie vertont hat. In noch ganz anderen, die Welt aus den Angeln hebenden Tönen. Töne, so unerhört, wie wir sie uns ersehnen, aber wie sie uns noch nie zu Gehör gekommen sind. 

Der Unterschied zwischen oben und unten, zwischen Himmel und Erde – er ist aufgehoben. Gott wird Mensch, damit wir endlich menschlich miteinander umgehen. Gott gibt sein Schweigen auf. Und bringt uns zum Singen. Für immer. Aufgehoben im Lobgesang der Engel. Welche Hoffnung könnte schöner sein – gerade am Sonntag Kantate! Amen.

Wir singen die Strophen 2 und 5:

NL 121,2: Die Himmel erzählen … Ein Zelt baut sich die Sonne …

NL 121,5: Die Himmel erzählen … Ein Herz, in Gott geborgen … 

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.