Predigt über Lukas 10,25-37 im Gottesdienst zum 120. Kirchweihfest  am 11. September 2022 in der evangelischen Johanneskirche in Heidelberg-Neuenheim

11.09.2022

Liebe Gemeinde!

In die Schar derer, die Ihnen zu Ihrem Festtag heute gratulieren, reihe auch ich mich gerne ein. Ich freue mich, dass ich dazu als Prälat auch eine Festgabe beisteuern kann: die Predigt in diesem besonderen Gottesdienst.

Ich möchte aber nicht versäumen, Ihnen erst einmal von Herzen zu diesem 120. Geburtstag Ihrer Johanneskirche zu gratulieren. Ich tue das persönlich. Aber ich tue es ausdrücklich auch im Namen der Landeskirche. In diesen Glückwunsch beziehe ich auch das Festgeschenk mit ein, das Sie sich selber gemacht haben: das wunderschöne Buch zur Kirche und zum Gemeindehaus. Schon beim ersten Lesen ist es für mich zu einem Lehrbuch dessen geworden, was Kirche in der Welt will und soll.

Es ist wichtig, dass wir denen, die nach uns Kirche gestalten, helfen, die Erinnerung wachzuhalten – die Erinnerung daran, dass wir uns in unserem Kirche-Sein allemal verdanken – der Barmherzigkeit Gottes und dem langen Atem derer, die vor uns Verantwortung getragen haben.

Liebe Gemeinde, es gibt Sätze, die immer wieder zitiert werden. Sie werden aber dadurch nicht richtiger. Oder sie sind auch dann nicht weniger problematisch. Einen solchen Satz höre ich im aktuellen Strategieprozess unserer Landeskirche immer wieder. Er lautet: "Kirche muss in Menschen investieren. Nicht in Steine."

Gemeint ist: Gebäude verschlingen nur unnötig unser Geld. In der direkten Hilfe für bedürftige Menschen wäre es doch besser aufgehoben. Ein Satz ist das, dem durchaus eine gute Absicht zugrunde liegt. Und der auch leicht auf Zustimmung stößt. Der Kirche soll’s doch um die Menschen gehen. Und nicht vor allem um ihre Immobilien. Und doch ist das - so lapidar formuliert - eine gefährliche, ja auch eine falsche Alternative.

Als Prediger stehe ich am heutigen Sonntag mittendrin im Spannungsfeld dieser beiden hier beschriebenen Alternativen. Zwischen Skylla und Charybdis gewissermaßen. Da feiern Sie den 120. Geburtstag Ihrer Johanneskirche. Ein Gebäude eben aus Stein. Es hat Geld gekostet – damals und es tut es bis heute.

Und zu diesem Jubeltag anlässlich des Jubiläums Ihrer Kirche gibt es einen Predigttext, der wahrhaftig den Menschen im Blick hat. Mehr als viele andere Texte. Sie kennen diesen Text alle! Aber hören Sie einfach noch einmal ganz neu auf diese Worte aus Lukas 10. Bevor ich aber auf den bekannteren Teil des Textes Bezug nehme, soll’s erst einmal um die Ausgangssituation gehen. Die wird meist übersehen.

Ab er da genau liegt die Brücke zwischen Ihrem heutigen Festtag und dem Predigttext. Die Brücke zwischen der Investition in Steine oder in Menschen. Im einen und im anderen Fall geht’s um die zentralen Fragen des Lebens. Hören Sie also auf den Anfang des Predigttextes aus Lukas 10!

Und siehe, da stand ein Gesetzeslehrer auf, wollte Jesus auf die Probe stellen und sprach: Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht in der Thora geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.

„Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ Es ist die Frage, die religiöse und nicht religiös geprägte Menschen verbindet. Es ist die Frage nach dem, was bleibt. Und es ist der Sinn von Religion, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Man muss dem Fragesteller nicht einmal unterstellen, dass er Jesus aufs Glatteis führen will. Er testet vielmehr mit berechtigtem Interesse durchaus aus, ob der Anspruch, der mit diesem Jesus verbunden ist, zurecht besteht. Womöglich hätte ich Jesus diese Frage selber auch einmal gern gestellt.

Jesus, ganz verwurzelt in seinem jüdischen Glauben, verweist auf die Thora. Gottesliebe und Nächstenliebe – miteinander verbunden! Hier liegt das Geheimnis gelingenden Lebens. Ich kann mich nicht lieben, mich nicht annehmen, so wie ich bin, verletzlich und doch einzigartig, wenn ich die Kraft meiner Liebe nicht zugleich auch über meinen kleinen Horizont hinaus ausrichte - auf die, die mit mir unterwegs, die mit mir Mensch sind. Und hin auf Gott – jenseitig und mir zugleich ganz nah. Es bliebe eine reine Selbstbespiegelung übrig.

Zugleich gilt: Ich kann die Kraft meiner Liebe nicht ausrichten auf Gott, mich nicht hingeben, wenn mir vor dem Blick in den Spiegel graut. Wenn ich mich nicht selbst annehme. Und mein Nächster bleibt mir fremd, wenn ich in ihm nicht Gottes Gegenwart, Gottes Angesicht hervorleuchten sehe.

Gott, mein Nächster und ich – wie die drei Ecken eines Dreiecks sind sie miteinander verbunden. Und der mir nahe, der mir nächste Mensch – er ist der Schlüssel, um Gott zu erahnen. Oder – wie es der thorakundige Fragesteller ausdrückt – um bei Gott Bestand, ewiges Leben zu haben. Er ahnt wohl, wo der Schlüssel zur Antwort auf seine Frage verborgen liegt. Er fragt deshalb nach. Im Predigttext ist das nur ein Vers:

Der Gesetzeslehrer aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster?

Die Kategorie des Nächsten ist keine, die sich messen lässt in Metern und Kilometern. Es geht nicht um Entfernungen, es geht um die rechte Haltung. „Wer ist mein Nächster?“ Oder noch zugespitzter formuliert: „Kann es überhaupt jemanden geben, der nicht mein Nächster ist?“

Was jetzt folgt, ist – so scheint es – ein unüberbietbares Zeugnis dafür, in der Alternative Stein oder Menschen Stellung zu beziehen. Hören Sie noch einmal hin. Aber hören Sie womöglich noch einmal ganz neu!

Jesus sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme.

Der barmherzige Samariter! Es ist der zentrale Text praktizierter Nächstenliebe. Es ist der biblische Bezugstext der Diakonie. Er begegnet mir bei fast jeder festlich-diakonischen Gelegenheit. Die Rollen sind längst verteilt. Die Botschaft – wie’s scheint – seit Jahrhunderten geklärt.

Die amtlichen Vertreter der Religion lassen ihr Opfer links liegen. Nur der Samariter tut, was doch das Selbstverständlichste auf der Welt ist. So weit. So aber  nur die halbe Wahrheit. Kann ich wissen, ob der Priester gerade jemand anderem zu Hilfe eilt? Oder ob der Levit den Wegelagerern kurz zuvor nicht selber gerade noch rechtzeitig entkommen ist. Beide haben sie eine Entscheidung getroffen. In unseren Bewertungen kommen sie schlecht weg, weil wir ihre Beweggründe nicht kennen. Und weil sie sich nicht so verhalten, wie es sich aus unserer begrenzten Einsicht heraus nahelegt.

Der Samariter bietet sich als Projektionsfläche für alle und alles an. Er ist der gute Mensch, der weiß, was sich gehört und wer die nächste hilfsbedürftige Person ist. Er ist der barmherzige Menschenfreund, der die nötigen Rettungsmaßnahmen einleitet. Er ist der findige Gründer eines diakonischen Startups, der eine Kneipe zu einem Sanatorium umwandelt und sogar noch das nötige Startkapital zur Verfügung stellt.

Dabei könnten sich all diese Deutungen als Schnellschuss und als Fehlschluss erweisen. Der Samariter ist zunächst einfach der, von dem es heißt, dass es ihn „jammert“. Er ist der Prototyp des Menschen, der sich seine Empathie bewahrt. Dem zu Herzen geht, was die Lebensmöglichkeiten eines anderen Menschen reduziert und torpediert. Er ist einer, der weiß, dass das eigene Lebensglück am besten in eine gelingende Balance kommt, wenn es nicht auf Kosten eines anderen Menschen erkauft ist. Er ist der, der im Unter-die-Räuber-Gefallenen ohne zu Zögern seinen Nächsten erkennt.

So findet die Ausgangsfrage des Gesetzeslehrers nach dem Weg zum ewigen Leben am leichtesten zu einer einleuchtenden Antwort. Nur Ist das einen Tick zu schnell gedacht. Deshalb hören Sie nun noch auf die letzten Sätze des Predigttextes. Eine einfache Frage: Und eine überraschende Antwort.

Jesus fragte den Gesetzeslehrer: Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war? Der sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Die Fragerichtung ist um 180 Grad gedreht. Nicht das Opfer des Raubes ist die Antwort auf die Frage nach dem Nächsten. Jesus stellt die Frage nach dem Nächsten vielmehr umgekehrt. Aus dessen Perspektive. „Wer ist dem Opfer zum Nächsten geworden?“

Darum also geht es! Den anderen, den bedrängten Mitmenschen zum Nächsten werden. Auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates, die am vergangenen Donnerstag zu Ende gegangen ist, war das die Blickrichtung. Wie werden wir einander zu Nächsten? Denen die unter dem Klimawandel noch viel mehr leiden als wir! Und die wir mit Zögerlichkeit abspeisen. Den Menschen in der vom Krieg überzogenen Ukraine? Und mehr denn je sind wir unsicher, was denn in dieser Situation das Richtige sei. Den Schwestern und Brüdern, die ihr Bekenntnis zum christlichen Glauben ein ums andere Mal in Bedrängnis und Verfolgung führt. Und die wir in unserem Kirche-Sein viel zu wenig im Blick haben.

Noch einmal kommt jetzt Ihre 120 Jahre alte Johanneskirche in den Blick. Nein, das ist keine Investition in Steine. Es ist überhaupt keine Investition. Investitionen müssen sich rechnen. Kirchen sind per se ein Einspruch gegen eine Welt, in der sich alles rechnen muss. Einer Welt, in der nur die Gesetze der Ökonomie gelten. Aber wir müssen unsere Kirchen dennoch finanzieren können.

Kirchen sind Orte, an denen wir üben, einander zum Nächsten und zur Nächsten zu werden. Und die Väter und Mütter dieser von Hermann Behagel geplanten Johanneskirche haben sich das durchaus etwas kosten lassen. Soviel, dass die „Creditanstalten“ zunächst nicht willens waren, die neue Kirche zu finanzieren.  Wie gut, dass der oft vielgescholtene Oberkirchenrat damals mit einem Kredit eingesprungen ist.

Selbst Großherzog Friedrich ließ es sich nicht nehmen, den Neuenheimerinnen und Neuenheimern zum Nächsten zu werden und feierte am 11. Mai 1902 fröhlich mit. Unübersehbar, leicht erhöht, gibt diese Kirche seitdem kund, dass wir einander zu Nächsten werden sollen. Auch ich bin schon unzählige Male an Ihrer Kirche vorbeigefahren – man kann sie wahrhaftig nicht übersehen. Da ist viel mehr als eine Investition in Steine!

Der Gleichniserzähler des heutigen Predigttextes – er ist als Bergprediger in dieser Kirche unübersehbar ins Bild gesetzt. Das Bauprogramm spiegelt den protestantischen Anspruch der damaligen Zeit wider. Die Gemeinde feiert miteinander. Und nicht im räumlichen Gegenüber von Gemeinde und liturgisch handelnden Personen. Schon gar nicht beim Abendmahl. Da wollte man sich ökumenisch durchaus mit eigenem Anspruch selbstbewusst abgrenzen. In der Kirche des allgemeinen Priestertums sollten sich alle zu Nächsten werden können. Schließlich war die kühne Hoffnung, man könne doch eine Übernachtung Martin Luthers in Neuenheim nachweisen, nie ganz aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden.

Eine Besonderheit ist sicher die reiche Pflanzenornamentik Ihrer Kirche. Ein ums andere Mal kann man einen Blick in die Pflanzenvielfalt der Schöpfung werfen, wenn man Ihre Kirche etwas genauer in den Blick nimmt. Der Wirt, der den unter die Räuber Gefallenen pflegt, hätte sich die heilende Kraft der einen oder anderen der dargestellten Pflanzen sicher zu Nutze gemacht.

Nein, wer die paradiesische Pflanzenvielfalt der Schöpfung zum heimlichen Bildprogramm einer Kirche erhebt, investiert nicht in Steine. Sondern allemal in Menschen. In die Gemeinschaft derer, die die Schöpfung lieben, dem Frieden nachstreben und der Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfen. Oder mit den Worten des Mottos der Vollversammlung des Ökumenischen Rats: „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt!“ In dieser Johanneskirche seit 120 Jahren. Und überall in der Welt. Heute und morgen. Amen. 

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.