Predigt über Matthäus 14,22-33 zum Abschluss des Kantatenwochenendes der Evangelischen Akademie Baden am 6. Februar 2022 (4.s.v.d.Passionszeit) in der Stadtkirche in Karlsruhe

06.02.2022

Liebe Gemeinde

Virtuos, fast wie im Rausch ist das stimmliche Alleluja eben durch den Kirchenraum der Stadtkirche und durch die digitalen Kanäle getanzt. Leidenschaftlich vor Augen geführt und ins Herz geschrieben mit den Tönen der Trompete und den Klängen der Streicher. Was bliebe jetzt noch mehr zu tun, als einfach Amen zu sagen. Nach dem fulminanten Ende der Kantate braucht ein neuer Anfang doch einen bescheidenen Ton.

Aber auch unser Amen braucht eine Anbahnung. Nach den zugesungenen Worten der Kantate,  wie eine Zwillingsschwester, noch zugesprochene Worte der Predigt. Die Kantate, die wir eben gehört haben, ist  ursprünglich für den 15. Sonntag nach Trinitatis geschrieben. Sie ist keinem auf den Sonntag bezogenen biblischen Text unabweisbar zugeordnet. Im Gegenteil.

Im handschriftlichen Original der vermutlich im Jahre 1730 uraufgeführten Kantate ist bei der Sonntagsbestimmung der Hinweis ergänzt: „et in ognis tempo“ – zu jeglicher Zeit, zu jedem Anlass - was nichts anderes bedeutet, als dass die Kantate im Grunde immer und an jedem Sonntag passt. Kein Wunder! – ist doch die musikalisch höchst anspruchsvolle Aufforderung zum Gotteslob zu allen Zeiten angemessen. Ebenso das im Modus des Gebets formulierte Rezitativ und die anschließende Arie. 

Vom ganz besonderen Gotteslob eines nicht nur prominenten, sondern der Kirche in höchstem Maß verbundenen Menschen handelt der vorgeschlagene Predigttext für diesen vierten Sonntag vor der Passionszeit. Eines der unveränderlichen Kennzeichen dieses besonderen Menschen ist sein unerschütterliches Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten.

Nichts gibt es, was er sich nicht zutrauen würde. Einem Mitglied des Verhaftungskommandos, ausgesandt um Jesus festzunehmen, schlägt er ein Ohr ab. Beim Prozess schmuggelt er sich direkt ins Zentrum des Geschehens. Als es seinen Mitjünger Johannes graut, traut er sich als Erster hinein ins leere Grab. Unsere römisch-katholische Schwesterkirche verehrt ihn sogar als Ersten in der Reihe der Bischöfe von Rom. Petrus, der Fels – sie werden ihn erkannt haben - Petrus ist immer in der ersten Reihe zu finden.

In diesem Bericht, um den es heute gehen soll, ist es nicht anders. Petrus traut sich etwas, was für alle anderen weit entfernt liegt von allem, was sie sich überhaupt nur vorstellen können.

Wir hören aus Matthäus 14 die Verse 22-33:

Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein. Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen.

Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!

Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich. Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!

Liebe Gemeinde! Ich bin noch nie auf dem Wasser des Sees Genezareth gewandelt. Aber das ein oder andere Mal darin geschwommen.  In der Frische des frühen Morgens habe ich dort schon den Anbruch des anbrechenden neuen Tages genossen. Doch um die umwerfenden Erfahrungen des Petrus teilen zu können, braucht es weit mehr.

Wie die eben musizierte Kantate endet auch der Bericht des Predigttextes mit einem exorbitanten Gotteslob. Aber noch einmal ganz anders wie in der Kantate. Das Gotteslob der Kantate mündet in eine vertrauten Choralstrophe und ein sich anschließendes Halleluja.

Das Gotteslob des Predigttextes mündet in ein Bekenntnis. „Du bist wahrhaftig der Sohn Gottes!“ Da muss biographisch Einschneidendes passiert sein, damit Petrus die von ihm beanspruchte Sonderrolle so einschneidend relativiert. Sich selber so zurücknimmt. Und in dem, dessen Hand sich ihm entgegenstreckt, nichts anderes als die Gegenwart Gottes entdeckt.

Ein ums andere Mal müssen denen, die mit Jesus unterwegs sind, die Augen übergegangen sein. Doch genauso oft folgt dem Staunen die Furcht auf dem Fuß. Es ist also nicht das Miterleben des Wunders, das die Furcht austreibt. Der Glaube muss immer neu errungen werden.

Eben hat Jesus, so wird kurz vor dem Predigttext berichtet, das Unmögliche wahr gemacht. Fünf Brote und zwei Fische. Und Fünftausend werden satt. Und das unglaubliche Staunen reicht bei den Jüngern nicht einmal aus, um dem nächsten Sturm standzuhalten. Und den, der ihnen zu Hilfe kommt, halten sie für ein Gespenst. Denn er kommt aus unerwarteter, ja unmöglicher Richtung. Er kommt übers Wasser.

Ich gebe zu: Ich hätte die Hilfe auch nicht von dort her erwartet. Manchmal braucht es den Perspektivwechsel, die neue, gänzlich unerwartete Blickrichtung, um dem Untergehen zu entrinnen. Und um zuletzt doch noch zu erleben, was Friedrich Hölderlin in seine vertrauten Zeilen fasst: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“

Die Jünger wähnen sich in Gefahr. Ihr Schiff ist zum Spiel der Wellen geworden. Aber von dem, der da übers Wasser kommt, sind Rettung und Bewahrung nicht zu erwarten. Wären da nicht die vertrauten Worte: „Fürchtet euch nicht!“ Die Jünger nehmen den wahr, der von unerwarteter Seite kommt. Doch die Lähmung bleibt fürs Erste. Nur nicht bei dem, der immer der Erste sein will. Nicht bei Petrus.

Nicht Re-Aktion, sondern Aktion! Nicht Nachfolge, sondern Entgegengehen lautet sein Entschluss. Und Petrus geht auf dem Wasser.  Im Vertrauen auf den, der ihn ruft. Im Sturm, der ihm eben noch allen Mut geraubt hat. Petrus geht. Er ist der Erste, der übers Wasser geht. „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt!“

Ganz so weit her ist es mit seinem Glauben aber nicht. Petrus traut seinen Möglichkeiten nicht. Er droht unterzugehen. Bis sich ihm diese Hand entgegenstreckt, die ihn hält. Das abschließende Alleluja der Kantate war womöglich nur ein leiser Anklang an die Dankbarkeit, die in Petrus hier aufsteigt. 

Ich lebe, weil ein anderer mich hält. Ich lebe, weil Gott mir seine Hand entgegenstreckt. Nicht dass Petrus auf dem Wasser gegangen ist, ist hier das Wunder. Das Wunder besteht darin, dass er gehalten ist. Das Wunder besteht darin, dass diese Einsicht den Sturm zum Verstummen bringt.

„Sei Lob und Preis mit Ehren!“ – irgendwie ganz ähnlich wie im Schlusschoral der Kantate muss es auch im Boot geklungen haben. Und bei niemandem mehr als bei Petrus. Sein Gotteslob wird zur Solo-Kantate seines Lebens! Sein Jauchzen angesichts der Rettung – es verbreitet sich in allen Landen. Bis heute. Warum sonst sollten wir uns diese Geschichte auch heute wieder in Erinnerung rufen lassen. Petrus weiß nun: Wer gelernt hat, übers Wasser zu gehen, geht so schnell nicht unter!

Aber es braucht nicht allein die Erfahrung des Petrus, um zu dieser Einsicht zu gelangen. Es müsste eigentlich unser aller Lebensweisheit sein. Zumal in Zeiten, in denen es an Möglichkeiten, in den Untiefen des Lebens unterzugehen, keinen Mangel hat. Politisch nicht. Von der Pandemie her nicht. Und von den vielen persönlichen stürmischen Gewässern, in denen wir oft unterzugehen drohen, noch gar nicht die Rede.

Dass ich dennoch lebe – dass wir alle dennoch leben - meist doch voller Zuversicht - dass ich nicht untergehe und meine Schritte ins Leben setze, jeden Tag neu, das kann doch nur wahr werden, weil ich den Gang übers Wasser gelernt, gewagt und ihn mehr als einmal geübt habe. Weil sich mir jene Hand entgegenstreckt, ein ums andere Mal, wenn ich unterzugehen drohe - jene Hand, die mich vor dem Untergang bewahrt. Und die die stürmischen Wogen um mich herum zur Ruhe bringt. „… dass er uns in Kreuz und Not allezeit hat beigestanden“ – so lautet diese Erfahrung in die Sprache der Kantate übersetzt.

„Et in ognis tempo“ – zu allen Zeiten gilt, was die die Summe dieses Wasser-Wandel-Wunders ist – so wie das Gotteslob der Kantate immer neu und in immer anderen Zusammenhängen erklingen kann.

Es stimmt: Einem Gang übers Wasser gleicht mein Leben. Aber das „Fürchte dich nicht!“ klingt mir unüberhörbar entgegen. Nein! Furcht ist nicht das Letzte, was mein Leben bestimmt. Das ist das Gotteslob, selbst wenn es zaghaft und kümmerlich daherkommt. „So kann ein schlechtes Lob ihm dennoch wohl gefallen!“ mit diesen Worten macht uns die Kantate Mut.

Ich wage also weiter den tagtäglichen Gang übers Wasser. Vertraue dem, dessen „Fürchte dich nicht!“ einmal mehr und unüberhörbar an mein Ohr dringt. Selbst dann, wenn nicht einmal Wasser genug da ist, um meine Schritte zu setzen.

Ich setzte den Fuß in die Luft. / Und sie trug!“ Mehr als das, was Hilde Domin in diese wenigen Worte gefasst hat, braucht‘s nicht. Der Sturm hat sich gelegt. Und zuletzt bleibt nur das Gotteslob. Ohne Ende. Amen.

 

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.