Predigt über Römer 8,26-30 am Sonntag, 29. Mai 2022 (Exaudi) in der Heiliggeistkirche in Heidelberg

29.05.2022

Liebe Gemeinde!

Hier irrt Paulus. Und zwar gewaltig. Das ging mir durch den Kopf. Vor einiger Zeit schon. Als mich eine Freundin ganz überraschend gebeten hat, ich möge doch einmal ihren Konfirmationsspruch für sie deuten. Und ihn möglichst entgiften. Seit Jahrzehnten gehe er ihr nach. Und sie könne ihn einfach nicht für sich annehmen.

Abgesehen davon, dass es mich freut, wenn jemand mit seinem Konfirmationsspruch durchs Leben unterwegs ist – ich hatte selber große Mühe mit diesem Satz. Der Konfirmationsspruch ist ein zentraler Satz aus dem heutigen Predigttext: Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind.

Wenn ich ehrlich bin, bin ich der Freundin meine eigene ehrliche Sicht erst einmal schuldig geblieben. Ich wollte lieber, dass sie diesen Spruch irgendwie als guten, ihr Lebenssinn zusprechenden Satz verstehen könnte. Mein eigenes Nichtverstehen hätte ihr da vermutlich nicht viel weitergeholfen.

Gleich in doppelter Weise macht mich dieser Satz tatsächlich ratlos. Und sprachlos. Beinahe jedenfalls. Ansonsten könnte ich ja heute nicht predigen.

Mein erster Einspruch gegen Paulus: Das stimmt doch nicht! Denen, die Gott lieben, dienen alle Dinge zum Besten?

·       Der Mann, dem mitten im Leben innerhalb weniger Wochen die Frau wegstirbt. Dieser plötzliche Tod - für ihn zum Besten?

·       Die Frau aus der Ukraine in der Nachbarschaft, der mit ihren zwei kleinen Kindern nur die Flucht geblieben ist, der Mann kämpft zu Hause an der Front. Und jede Nacht lässt sie die Angst um ihn nicht schlafen. Dieser Krieg – für diese Familie zum Besten?

·       Das alte Ehepaar – zum ersten Mal in der Schlange vor dem Tafelladen. Unsicher und verschämt. Ihre Rente reicht nicht mehr, seit alles so schnell so viel teurer geworden ist. Diese plötzliche Armut - für die beiden zum Besten?

Gemeinsam ist all diesen Menschen: Der Glaube an Gott bedeutet ihnen viel. Gerade jetzt. Sie werfen ihn nicht weg. Bisher jedenfalls noch nicht. Aber dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen? Kann, will ich das wirklich glauben?

Froh wäre ich, Paulus wäre heute hier! Und ich könnte ihn mit meinen Fragen konfrontieren. Könnte mir Klarheit verschaffen, ob er hier wirklich irrt. Ja auch: Ob der Irrtum auf meiner Seite liegt. Oder ob wir irgendwie beide im Recht sind. Oder im Unrecht.

Aber damit nicht genug. Noch eine zweite Frage beschäftigt mich bei diesem Satz: Zum Besten dienen alle Dinge nur denen, die berufen sind. Und dazu vorherbestimmt noch dazu. Die anderen – die sind dann ohnedies außen vor? Wenn sie nicht auf Gottes Liste stehen, ist alles von vornherein vergeblich. Die Erwählten haben Zukunft. Und die anderen? Ja, am liebsten würde ich Paulus selber fragen. Damit er mich aus der Düsternis meiner Fragen herausholt. Und ins Licht der Erkenntnis führt.

Ein erstes Innehalten möchte ich uns allen gönnen. Und Sie zum Singen einladen.

NL 30,1: Durch das Dunkel hindurch scheint der Himmel hell

 Irrt Paulus, liebe Gemeinde? Paulus ist seit 2000 Jahren tot. Ist vermutlich den Märtyrertod gestorben in der Stadt, an die sich der Brief richtet, um den es heute geht. In Rom. Ich will Paulus dennoch zu Wort kommen lassen. Und aus seinem Brief vorlesen. Der Brief, den wir den Römerbrief nennen – er war vermutlich ja ohnedies eine Art Rundscheiben. Zumindest ist er durch verschiedene Gemeinden zirkuliert. Denn vom Schluss des Römerbriefes gibt es verschiedene Versionen. Manche Exegeten meinen sogar, die in unserer Bibel enthaltene Version des Römerbriefes sei die, die er nach Ephesus geschickt hat.

Jetzt aber möchte ich Ihnen den größeren Zusammenhang dieses Satzes zu Gehör bringen. Da heißt es also:

Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind. Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.

Manche gibt es, die haben bei Paulus tatsächlich so etwas entdeckt wie eine Auswahl der wenigen Gerechten. Augustinus, einer der ganz Großen in der Geschichte der Kirche, kannte sogar die Zahl der Auserwählten: 144.000 meinte er. Mehr nicht. Die anderen werden aussortiert.

Manche sortieren auch heute aus. Unterteilen die Welt in Gute und Böse. Nach ihren eigenen Kriterien. Nehmen so gewissermaßen selber die Rolle Gottes ein. Paulus, da bin ich sicher, hat gewusst, dass Gott größer ist. Größer denkt. Größer handelt.

Deshalb hat er die Entscheidung hier bewusst Gott überlassen. Es ist Gott, der beruft. Es ist Gott, der auserwählt. Es ist Gott, der gerecht macht. Immerhin! Aber wer gehört dazu? Wer nicht? Und: Kann ich das wissen? Zumindest für mich selber? Für andere?

Die Antwort bleibt fürs Erste offen. So wie sie für Martin Luther fürs Erste offengeblieben war. „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Luthers zentrale Frage hat sich genau darauf bezogen. Luther wollte dazugehören. Keine Frage! Aber er wusste je länger je mehr: Erarbeiten konnte er sich diese Sicherheit nicht. Erwerben auch nicht. Und schon gar nicht erzwingen. Nur erglauben!

Am Ende ist es Paulus, der ihm hier die Pforten zum Paradies öffnet, wie er das selber beschreibt. Genau mit diesem Römerbrief. Ein paar Seiten weiter vorne. Da, wo Paulus seine Bibel zitiert. Genauer gesagt den Propheten Habakuk: „Aus Glauben wird der Gerechte leben!“ Luther erkennt: Offen sind die Pforten nicht, weil er zu den Erwählten gehört. Zu den Erwählten gehört er, weil er sich ganz darauf verlässt, dass Gott es mit ihm recht macht. Und ihn ins Recht setzt. Und die kühne Hoffnung, dass es am Ende alle sind, die zu den Berufenen gehören, ist zumindest nicht aus der Welt.  

Bevor wir weiter auf Paulus hören, lade ich Sie ein, die zweite Strophe des angefangenen Liedes zu singen.

NL 39,2: Durch das Dunkel hindurch dringt ein neues Wort

Jetzt bin ich mir ziemlich sicher: Paulus irrt nicht! Doch um dieses neue Wort besser zu verstehen, müssen wir noch auf weitere Sätze dieses Briefes hören.

Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.

Keine Frage: Paulus kennt die Welt und die Menschen ziemlich gut. Er weiß auch, dass die Gegenwart nicht dem entspricht, wie Menschen sie sich wünschen. Damals nicht. Und heute auch nicht. Da steht noch etwas aus. Da klafft noch eine gewaltige Lücke zwischen dieser Rettung auf Hoffnung hin. Und den Realitäten des Lebens. Des Lebens der so heftig Bedrängten. Aber auch meines Lebens.

Von Wehen spricht Paulus. Der Mann. Durchaus bemerkenswert. Und vom Seufzen der Kreatur spricht er. Und die seufzt heute wahrhaftig nicht weniger als zu Paulus‘ Zeiten. Aber Paulus gibt sich mit dem Seufzen nicht zufrieden. Er setzt der erlebten Realität eine andere entgegen. Schon erfahrbar – aber auf Hoffnung. Also so, dass sie Gottes Zukunft schon vorwegnimmt. Sie als gegenwärtig beschreibt, gegen allen Augenschein. Sogar gegen alle Erfahrung.

Paulus beschreibt Gottes neue Welt als eine  erglaubte! Im Glauben vorweggenommen in der Weise der Gegenwart Gottes, die wir Gottes Geist nennen. Dazu noch einmal einige Sätze aus dem Brief des Paulus:

Desgleichen hilft auch der Geist unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt, sondern der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen. Der aber die Herzen erforscht, der weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist; denn er tritt für die Heiligen ein, wie Gott es will.

Irren ist menschlich, liebe Gemeinde. So sagt es ein Sprichwort. Sich zu irren, das gehört bei uns zum Leben dazu. Sich zu irren, das gehört in den Bereich der seufzenden Kreatur. Bei seinem Kernthema ist für Paulus der Irrtum ausgeschlossen! Irren mag zwar menschlich sein. Aber bei Gott ist das anders. Da ist der Irrtum ausgeschlossen. Gottes Geist hilft unserer Schwachheit auf! Und treibt allen Irrtum aus. Denn der Geist macht unser Seufzen zu seiner Sache.

·       Unserem Seufzen über Unrecht setzt er die kühne Hoffnung von Gottes neuer Gerechtigkeit entgegen.

·       Unserem Seufzen über den Krieg die Zusage: Selig sind, die Frieden stiften. Was euch jetzt so sehr in Bedrängnis bringt, ist nicht das Letzte, was über diese Welt zu sagen ist.

·       Unser Erschrecken über den Tod hat er sich selber zu eigen gemacht. Mit Haut und Haar. Hat den Tod am eigenen Leib erfahren. Und ihm am Ende die Grenzen seiner Macht aufgezeigt. Hat den Stein weggerollt. Und die Höhle des Todes zur Gebärmutter des Lebens gemacht - um im Bild des Paulus zu bleiben.

Es ist noch lange nicht unser aller Erfahrung. Aber es könnte, ja es müsste unser aller Hoffnung sein. Weil Gottes Geist unserem Geist neue Hoffnung einhaucht. Und unsere ausgedörrten Seelen mit den Wasser des Lebens nährt und neu ergrünen lässt.

Noch einmal lasst uns singen – die dritte Strophe!

NL 30,3: Durch das Dunkel hindurch führt ein neuer Weg

Dieser neue Weg – es gibt ihn. Und er setzt unserer Gegenwart Gottes Zukunft entgegen.

·       Glauben - auf Hoffnung hin – er verändert schon die Gegenwart. Nicht erst die Zukunft. 

·       Der Geist, der unser Seufzen zu seinem macht – er vertröstet nicht. Er beflügelt – schon jetzt.

·       Das Böse, das mir jetzt noch den Weg in die Zukunft verstellt – möge Gott es verwandeln. Und mir schon jetzt die Gegenwart zum Guten dienen lassen.

Nein, leicht hätte ich es nicht, wollte ich dem Paulus seinen Irrtum nachweisen. Am Ende wäre ich froh, er würde recht behalten. Und mir wäre es leichter ums Herz, könnte die Freundin ihren Konfirmationsspruch doch noch als hilfreichen Zuspruch für ihr Leben annehmen. Besser jetzt als nie. Da steht für mich also noch eine Aufgabe aus. Vielleicht genügt es, wenn ich ihr den letzten Vers des Predigttextes als ersten zuspreche:

Was wollen wir nun hierzu sagen? Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?

Mit Gott kann ich das Leben wagen. Jeden Tag aufs Neue! Durchhaltevermögen braucht es auf dem Weg aus dem Seufzen der Kreatur hin zur vorweggenommenen Zukunft Gottes. Leben auf Hoffnung hin. In Bedrängnis. Und doch voll von beflügelnden Erfahrungen. Den langen Atem Gottes braucht es da. Und Wegzehrung, die uns durchhalten lässt.

Eingeladen sind wir an den Tisch des Lebens auf Hoffnung hin.

Feiern schon jetzt – in der erglaubten Zukunft Gottes.

Dazu sind wir jetzt eingeladen. Davon lasst uns auch singen. Mit der letzten Strophe. Amen.

NL 30,4: Durch das Dunkel hindurch stärkt ein Bissen Brot

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.