Andacht zur Jahreslosung am Beginn der Sitzung des Landeskirchenrates am Mittwoch, 26. Januar 2022

26.01.2022

Liebe Schwestern und Brüder im Landeskirchenrat!

Vor wenigen Tagen fand ich einen Umschlag mit einem Manuskript als Inhalt in meinem Briefkasten. Da wusste jemand, dass ich an solchen Dokumenten meine Freude habe. Es war das Manuskript einer Rede, gehalten vor fast genau 70 Jahren, im Dezember 1951 in Mannheim, aus Anlass des 75jährigen Bestehens des Mannheimer Rudervereins Amicitia. Festredner war der damalige Oberkirchenrat Hans-Wolfgang Heidland, später als Landesbischof der Vor-Vor-Vorgänger unseres jetzigen Landesbischofs Jochen Cornelius-Bundschuh. Säßen wir im Johann-Peter-Hebel-Saal könnte ich jetzt auf sein Bild verweisen.

Hans-Wolfgang Heidland gehörte bei den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles dem Deutschland-Achter an. Kein Wunder, dass man den passionierten Ruderer zum Festvortrag eingeladen hatte.

Nur wenige Sätze aus dem Beginn des Vortrags: „Es ist schwer, in die Vergangenheit zurückzublicken. Es drohen dabei zwei Gefahren: Wehmut und Hochmut. Wir müssen uns auf der einen Seite davor hüten, wehmütig das Verlorene zu beklagen und darüber für die Gegenwart müde zu werden und an der Zukunft zu verzweifeln. Und wir müssen auf der anderen Seite darauf achten, dass wir nicht hochmütig uns des einmal Gewonnenen brüsten, uns damit für heute beruhigen und für morgen begnügen. Die einzige Haltung, die allen Zeiten gerecht wird, ist die Dankbarkeit. Nur die Dankbarkeit verbindet das Schöne und Gute, das war, mit dem Nüchternen, das ist und dem Gebotenen, das werden soll.“

Schon beim Hören beschleicht einem das Gefühl, dass das, was Heidland den Ruderern ins Stammbuch schreibt, genauso gut der Kirche gelten könnte. Die Gegenwart als Zwischenzeit, dankbar Rückschau haltend auf das, was war, und zuversichtlich nach vorne blickend auf das, was kommen könnte oder gar demnächst schon ansteht. Das ist eine gute Perspektive, auch jetzt bei dieser ersten Sitzung des Landeskirchenrates im neuen Jahr.

Die Gegenwart, in der wir derzeit im liturgischen Kalender stehen, ist nach wie vor die des weihnachtlichen Festkreises. Der kommende Sonntag ist der letzte nach dem Epiphaniasfest. Erst am 2. Februar, 40 Tage nach Weihnachten, ist dann wirklich erst einmal alles vorbei. Und wir müssen uns mit frischer Energie „dem Gebotenen zuwenden, das werden soll“, um noch einmal die Sprache des Altbischofs zu verwenden.

Mag Weihnachten also demnächst vorbei sein, so gilt das nicht für das weitere Jahr 2022. Es ist ja immer noch fast frisch, noch keinen Monat alt. Zeit, der Jahreslosung noch einmal Raum zu geben. Obwohl als Motto des ganzen Jahres gedacht, fällt sie meist nur in den Anfangswochen in den Blick.

Ob sie der Aufgabe gewachsen ist, für ein ganzes Jahr tauglich zu sein und uns aus der Vergangenheit in die Zukunft zu führen, wird sich erst noch erweisen müssen. Im sechsten Kapitel des Johannes-Evangeliums hören wir Jesus also sagen:

Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen!“

Fast etwas enttäuscht war ich, als ich diesen Satz zum ersten Mal als Jahreslosung wahrgenommen habe - drei Jahre im Voraus von einer hochkarätig besetzten Gruppe der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen ausgewählt -  nicht ausgelost.

Wie eine theologische Binsenweisheit kommt der Satz daher, so der erste kleine Widerstand in mir. Das wissen wir nun doch alle. Nicht zurückgewiesen zu werden – das macht doch das Gottsein Gottes geradezu aus. Da brauchen wir doch kein weiteres Jahr, um darüber nachzudenken und zu dieser Weisheit zu gelangen.

Aber dann suchte ich dennoch nach Wegen, um meinen Frieden mit dieser Jahreslosung zu machen, schließlich soll sie mich doch ein Jahr lang begleiten. Und nicht nur mich!

Die erste Brücke, um über meinen inneren Widerstand hinwegzukommen, war der Blick in den Kontext. Jesus spricht im sechsten Kapitel des Johannesevangeliums über die enge Beziehung zu seinem Vater. Gerade hat er die Fünftausend satt gemacht. Und den Vater zum Ursprung dieses Wunders der Sättigung erklärt.

Was er hat, kommt von seinem Vater. Wer zu ihm kommt, kommt dem Vater nah. Es ist also gerade keine Binsenweisheit, sondern ein hochtheologischer Gedanke. Am Ende ist es der Vater, der nicht zurückweist. In der gegenseitigen Durchdringung von Vater und Sohn bahnt sich ein Teil jener theologischen Deutung an, die sich später dann in den christologischen und trinitarischen Entscheidungen der Konzile des 4. und 5. Jahrhunderts zur Wesenseinheit des Sohnes mit dem Vater ihren Ort verschafft. Unvermischt und ungetrennt wirken beide zusammen.

Das war die erste Brücke. Aber die zweite kam noch hinzu. Nicht zurückgewiesen werden, das ist die Urerfahrung gelingenden Menschseins. Menschen wollen dazugehören und nicht zurückgewiesen werden. Sie wollen zeigen, was sie können. So beschreiben Neurobiologen im Kern das Wesen einer postmodernen säkularen Anthropologie. Dazugehören und zeigen können was ich kann – Gerald Hüther hat seine Sicht auf menschliches Handeln in diese Worte gefasst.

Menschen wollen dazugehören und nicht zurückgewiesen werden! Man muss nur einmal sein Handy mit dem Impfnachweis zu Hause liegen gelassen haben – und schon steht man vor verschlossener Tür. Ich habe diese Erfahrung jedenfalls schon gemacht.

Menschen wollen dazugehören und nicht zurückgewiesen werden! Nicht die richtige Konfession zu haben, um am Mahl der Gemeinschaft am Tisch des Herrn zugelassen zu werden – es ist für mich nach wie vor eine sehr schmerzliche ökumenische Erfahrung, die ich ab und an einfach außer Kraft setze und mitfeiere am Tisch des Herrn. Noch nie ist bisher Feuer vom Himmel gefallen.

Menschen wollen dazugehören und nicht zurückgewiesen werden! Die angeblich falsche sexuelle Orientierung – viel zu lange hat sie Menschen aus der Gemeinschaft der Feiernden und Glaubenden ausgeschlossen. Gut, dass wir uns als Kirche hier auf einen anderen Weg aufgemacht haben.

Menschen wollen dazugehören und nicht zurückgewiesen werden – das gilt auch für die Geflüchteten im belarussischen Grenzgebiet an der Grenze zu Polen. Der rechtswidrige Pushback – und nicht nur dort -  lässt in ihnen ein ums andere Mal Wut und Enttäuschung aufkeimen, auch über uns.

Also doch – genau der richtige Vers für dieses Jahr. Die Türen, die wir öffnen, sie lassen andere etwas davon erfahren, dass sie nicht zurückgewiesen werden, dass sie willkommen sind. Bei uns. Und bei Gott.

Die Jahreslosung für 2022 – tatsächlich finde ich in ihr große Theologie auf engstem Raum. Und sie enthält zugleich eine kleine Schule der Mitmenschlichkeit. Da brauchen wir schon dieses ganze Jahr 2022, um hier entscheidend weiterzukommen.

Die wenigen noch verbleibenden nachweihnachtlichen Tage – sie könnten sich als ein Fenster erweisen, um gut von der Vergangenheit in die Zukunft aufzubrechen. Mit Dankbarkeit. Mit Zuversicht. Und mit offenen Türen. Für andere bei uns. Und für uns bei dem, der nicht zurückweist, wenn wir uns zu ihm auf den Weg machen. Amen.

 

Gebet
Du speist uns nicht ab, Gott, mit Nichtssagendem und Belanglosem. Brot des Lebens bist du, und Quelle, die unseren Durst nach Leben stillt.

Du reißt uns nicht ab und heraus aus dem Kalender der 365 Tage dieses Jahres, Gott. Jeder Tag kann für uns Gelegenheit sein, es noch einmal zu versuchen, mit den Menschen an unserer Seite, den uns wohlgesonnenen und den anderen.

Du weist uns nicht ab, Gott, wenn wir unerwartet vor dir auftauchen, weil wir nicht mehr weiter wissen. Türen öffnest du uns. Und du lässt unseren Gedanken Flügel wachsen, dass sie emporsteigen aus den Niedrigkeiten unserer Trägheit und Überforderung.

Was für ein Jahr, Gott, dieses 2022, keine Widrigkeiten und keine Virenwellen können dich aufhalten, dich mit uns auf den Weg in die Zukunft aufzumachen. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.