KLARTEXT zum 9. Sonntag nach Trinitatis für ZEITZEICHEN 8/2022

14.08.2022

Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden. (Matthäus 25,29)

Schon immer hat mich dieses Gleichnis geärgert. Drei Mitarbeiter werden mit Kapital in unterschiedlicher Höhe ausgestattet. Und bei dem, der am wenigsten erhält, wird die Messlatte am höchsten angelegt. Wie ein Abbild der ökonomischen Realitäten dieser Welt liest sich dieses Gleichnis. Der Habenichts wird dann gleich auch noch enteignet. Das, was ihm entzogen wird, erhält am Ende der, der von Anfang an am meisten hat. Wer ohnedies schon genug hat, bekommt den Betrug an den Ärmsten dann gleich auch noch dazu.

Keine Frage - beim Jüngsten Gericht möchte ich dem Schwächsten dieser drei Mitarbeiter zur Seite stehen und um Verständnis für seine Verweigerungshaltung werben. Was für eine andere Möglichkeit ist ihm denn überhaupt geblieben? Wer genügend Spielgeld hat, um an den Märkten zu spekulieren, kann der einen Million leicht eine weitere hinzufügen. Wem aber gerade genug bleibt, um satt zu werden, hat ganz andere Probleme. Und immerhin hat das ökonomische Leichtgewicht unter den Dreien das Geld nicht veruntreut, sondern es auf Heller und Pfennig zurückerstattet.

Aber genau hier liegt der Denkfehler dieser Art von Gleichnisdeutung. Die ökonomisch gefärbte Brille lässt diese Geschichte nur in einem verzerrten Blickwinkel erscheinen. Es geht gar nicht darum, etwas unter Marktbedingungen, mit Risiko und womöglich auf Kosten anderer zu vermehren. Die zugeteilten Mengen Silber sind Talente im wahrsten Sinne des Wortes, Zu-Teilungen Gottes, bei denen niemand leer ausgeht. Dass der eine anscheinend mehr und die andere weniger erhält, beschreibt nicht so sehr die Mengen als die Unterschiedlichkeit der Gaben. Entscheidend ist: Sie können niemals weniger, sondern immer nur mehr werden, vorausgesetzt ich mache von ihnen überhaupt Gebrauch. Das Leben selber erweist sich so als Talentschuppen Gottes für uns Menschen. Gabenverweigerung, nicht Marktverweigerung wäre dann also das, was dem dritten Mitarbeiter vorzuwerfen wäre. Aber das wird ihm hoffentlich lange vor dem Jüngsten Gericht aufgegangen sein und ihm Heulen und Zähneklappern erspart haben. Sogar ohne meinen Beistand.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.