Predigt im Gottesdienst zum Abschluss des Kantatenwochenendes der Evang. Akademie Baden zu BWV 34 „O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe“ unter Berücksichtigung von Matthäus 9,9-13 am Sonntag, 5. Februar 2023 (Septuagesimae) in der Stadtkirche in Karlsruhe

05.02.2023

Liebe Gemeinde!

Unüberhörbar: Festtagsstimmung! Eine Kantate mit festlicher Besetzung. Mit Trompeten und Pauken. Feuer schon im Titel. Und einem Feuerwerk in der Musik. Ganz ungewohnt in diesen Tagen. Drei Jahre Corona haben uns die Festfreude beinahe ausgetrieben. Geblieben ist die Sehnsucht, ein klein wenig davon könnten wir doch auch wieder zurückgewinnen. Und die Erfahrung: Wir sind auf dem besten Weg dahin. Auch das Kantatenwochenende der Evangelischen Akademie findet wieder in Präsenz statt.

Unüberhörbar Festtagsstimmung! Auch damals, als Johann Sebastian Bach 1727 die Hochzeitskantate für einen Pfarrer schreibt. Die Kantate, die wir eben gehört haben, übernimmt drei Teile dieser Hochzeitskantate. Die genaue Rekonstruktion der Geschichte dieser beiden Kantaten mit einer früheren Pfingstkantate Bachs mögen diejenigen vornehmen, die davon mehr verstehen als ich.

Auf jeden Fall trägt diese Hochzeitskantate denselben Titel wie die Pfingstkantate, die gerade musiziert wurde: „O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe“. Pfingsten, Hochzeit und die Liebe, das geht wohl irgendwie zusammen. Da geht’s beides Mal darum, dass Menschen aus den vertrauten Bahnen gerissen werden. Wohl dem Paar, dem Bach eigens eine Kantate zur Hochzeit präsentiert.

Unüberhörbar Festtagsstimmung dann also auch im Jahr 1727 – und dann auch wieder 1746. Vier Jahr vor Bachs Tod. Pfingsten. Wieder eine Kantate zum Thema. Eben diese Kantate! Bach bedient sich bei der Hochzeitskantate. Übernimmt die Chöre und die Arie. Passt den Text etwas an. Schreibt zwei Rezitative dazu. Und schon wird Pfingsten zum Fest der Liebe. In der Gemeinde, die neu zueinander findet. Und in der innigen Beziehung zwischen Christus und seiner Kirche. Die enge Verschränkung der Hochzeitskantate und der Pfingstkantate ist kein Zufall. Sie liegt für Bach in der Natur beider Festanlässe begründet.

Unüberhörbar Festtagsstimmung also an Pfingsten 1746. Auch wenn Bach Vertrautes über Bord wirft. Keine zweite Arie. Kein Schlusschoral. Stattdessen Jubel bis zum Ende! Vielleicht blieb Bach im dichten gottesdienstlichen Programm dafür einfach keine Zeit mehr.

Trotz der Schönheit und Anlassgemäßheit dieser Kantate: Heute ist nicht Pfingsten! Heute feiern wir den Sonntag Septuagesimä 2023. Noch 70 Tage bis Ostern, wie der Name vermuten lässt. Auch wenn es in Wahrheit nur 63 Tage sind. Weil man im Sonntagsnamen die Tage bis zum Sonntag nach Ostern zählt.

Dennoch frage ich mich: Anlass für Festtagsstimmung? Heute? Worüber? Über den Freedomday am vergangenen Mittwoch? Ich saß zum ersten Mal wieder ohne Maske in der Regionalbahn. Im Kirchenjahr sind wir seit dem 2. Februar endgültig aus dem weihnachtlichen Festkreis entlassen. Stehen aber noch vor der Passionszeit. Zumindest verhaltener Festtagsjubel ist also möglich. Und angesagt!

Nur noch wenige Wochen – und der Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine liegt schon wieder ein Jahr zurück. Festtagsjubel mitnichten! Und dennoch trifft mich diese Kantate mitten ins Herz. Trifft genau den Ton, der mir guttut in diesen Zeiten. Löst ein kleines Pfingstfest in mir aus. Mehr als 100 Tage vor Pfingsten. Nimmt Pfingsten gewissermaßen vorweg. Wie der Predigttext für diesen Sonntag, den wir als Lesung gehört haben.

Festtagsfreude im Kreis der Anhängerinnen und Anhänger Jesu. Nicht ohne Grund. Auch hier geht’s um ein Fest. Man trifft sich und setzt sich zusammen. Nicht wie bei uns auf Stühlen. Eher mit einer Seite auf ein Kissen gestützt. Schon als Schüler hat mich im Lateinunterricht das Verb accumbere fasziniert. Auf deutsch: Sich zu Tische legen. Legen also. Nicht sitzen.

Im Leben eines eigentlich gesellschaftlich Aussortierten. Im Leben des Matthäus, herrscht Festfreude. Und in die gemeinsame Festtagsrunde lassen sich gleich noch viele andere mit einladen. Niemand aus dieser ehrenwerten Gesellschaft der An-den-Rand-Gedrängten hat damit gerechnet. Diese Runde ist ein Pfingstfest der vom Geist Berufenen – schon lange vor Pfingsten.

Die Pfingstkantate, die wir gehört haben, passt zu dieser Festtafel. Schließlich ist auch da das Wirken und Wehen des Geistes spürbar und hörbar. Menschen kommen in den Wirkkreis Jesu aus Nazareth.  Spüren, erleben, dass Gottes Geist alte Schranken niederreißt. Und neue Gemeinschaft ermöglicht. Menschen feiern die Nähe der Gegenwart Gottes, ohne zu wissen, was sich da wirklich getan hat. Ohne ihre Erfahrung des Plötzlich-Dazugehörens theologisch korrekt in Worte fassen zu können.

Jesus leiht ihrer Erfahrung Worte. Fasst in zwei Schlüsselsätzen zusammen, was das Leben der Festtagsgäste aus den vertrauten Bahnen reißt. „Nicht die Starken und Autarken, nicht die Gesunden brauchen Unterstützung und Hilfe. Vielmehr die Bedürftigen.“ Genau die sind es, die an seinem Tisch feiern. Jesus – hier der Diakoniker für Leib und Seele.

Jetzt legt Jesus aber gewissermaßen als Theologe nach. Er zitiert die Bibel. Den Propheten Hosea. „Barmherzigkeit will ich. Und nicht Opfer!“ Auf hilfreiche Zuwendung kommt es an. Nicht auf religiöse Perfektion. Und politisch-religiöse Korrektheit

Genau darum geht’s auch an Pfingsten. Mit einem Mal gehören Menschen dazu, die vorher niemand auf dem Plan hatte. Mit einem Mal wirkt Gottes Geist der Entgrenzung. Und lässt neue Gemeinschaft Wirklichkeit werden.

Schon gleich im ersten Rezitativ haben wir die Worte gehört:

Herr, unsre Herzen halten dir
Dein Wort der Wahrheit für:
Du willst bei Menschen gerne sein,
Drum sei das Herze dein.

Die – die Bachspezialisten mögen’s mir nachsehen – anmutige Wohlfühl-Arie der Kantate bringt auf ihre Weise Vergleichbares zum Ausdruck:

Wohl euch, ihr auserwählten Seelen,
Die Gott zur Wohnung ausersehn.
Wer kann ein größer Heil erwählen?
Wer kann des Segens Menge zählen?
Und dieses ist vom Herrn geschehn.

In der Traukantate hat es sich übrigens ganz ähnlich angehört. Nur dass aus den Seelen Schafe werden. Dort heißt es:

Wohl euch, ihr auserwählten Schafe,
die ein getreuer Jacob liebt.
Sein Lohn wird dort am größten werden,
den ihm der Herr bereits auf Erden
durch seiner Rahel Anmut gibt.

Jakob und Rahel bilden also das Vorbild für die beiden sich Liebenden. Aus ihrer Liebe wird unter der Hand die Liebe Christi zu seiner Kirche. Der Geist von Pfingsten wird auch zum Geist der Verwandlung der Kantate.

Die Wohnstatt der göttlichen Kraft des Wandels – für den Psalmbeter taucht da das Bild des Tempels auf. Über den „Sitz des Heiligtums“, über die „heilgen Hütten“ wird Gottes Segen ausgeschüttet. Kein Wunder, dass die Kantate mit einem Jubelchor zugunsten Israels endet: „Friede über Israel!“ Atemlos, ohne Pause gehts vom zweiten Rezitativ in den fulminanten Schlusschor über. „Friede über Israel!“

Mitsingen möchte ich. Einstimmen in diesen Wunsch. Und doch bleibt es einstweilen ein frommer Wunsch. Im Sinn des Wortes. Aber so weit weg von der politischen Wirklichkeit dieser Tage. Statt Frieden jeden Tag mehr ein Hochschaukeln der Gewalt. Statt der Hoffnung Raum zu geben, dass der Spirale der Aussichtslosigkeit Einhalt geboten wird, eine Regierung, in der für good will, wie’s scheint, kein Platz mehr ist.

Es ist schon bemerkenswert, dass diese Pfingstkantate mit einer Friedensbitte für Israel endet. Der unbekannte Schreiber des Kantatentextes ahnt sehr wohl, wie sehr Israel und die Kirche nicht voneinander zu trennen sind. So wie er in der Hochzeitskantate dieselbe Friedensbitte für Israel mit der Liebe des Brautpaares in Beziehung setzt. Der Geist kennt auch hier keine Begrenzung. Weil er vor allem anderen der Geist Gottes ist.

Festtagsstimmung auch für uns, trotz allem! Weil Pfingsten sich nicht auf einen Sonntag im Kirchenjahr reduzieren lässt. Weil sich in der Weise, wie wir Pfingsten feiern, die Grundgestimmtheit des Glaubens artikuliert.

Nichts mehr als diesen Geist der Entgrenzung wünsche ich mir in diesen Tagen. Auch für diesen unsäglich grausamen Krieg in der Ukraine. Eine Entgrenzung des Denkens weg, von der alles dominierenden Frage, wie viele Waffen es noch braucht, um zu siegen. Hin zur Frage: Wer ruft an den Tisch der Verhandlungen zum Waffenstillstand? Hin zu einem Ende der Angst und der Gewalt. Hin zu einem Ende des tagtäglichen Sterbens Unschuldiger. Und Unbeteiligter. Jeden Tag!

Er hat gut reden, hier in Sicherheit, werden manche jetzt einwenden. Aber vielleicht ist gerade das unsere Aufgabe. Hier. Und gerade auch die der Älteren. Gerade auch die der Kirchen. Damit wir möglichst bald einstimmen können in die Worte des Schlusschores:

Dankt den höchsten Wunderhänden,
Dankt, Gott hat an euch gedacht.
Ja, sein Segen wirkt mit Macht,
Friede über euch zu senden.

Und mit aus voller Überzeugung würde ich einstimmen und mit vollem Herzen nichts anderes sagen als: Amen!

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.