Predigt im Gottesdienst (mit Kantate 3 aus dem Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach) am Sonntag, 1. Januar 2023 (Neujahrstag) in der Christuskirche in Mannheim

01.01.2023

Predigt - Teil 1

Liebe Gemeinde!

1. Januar 2023! Eine gute Gelegenheit, die Welt ab heute ein Jahr lang noch einmal ganz anders in den Blick zu nehmen. Sich für ein neues Jahresprogramm zu entscheiden. Oder gar für ein neues Lebensprogramm. Wie wär’s mit: Sehen! Und gesehen werden!

Um Gottes Willen, fragen Sie sich womöglich. Ja genau – um Gottes willen. Und um uns Menschen willen! Ich bin sicher: Dieses neue Jahr 2023 – es wird ein Jahr werden, in dem wir neu lernen müssen zu sehen. Sehen müssen wir, wie sich die Macht- und Interessenssphären in den zahlreichen Kriegen und Konflikten neu ordnen – und wo wir selber unseren Platz in diesem gefährlichen Spiel finden. Sehen müssen wir, wie Menschen, geschunden und gepeinigt, mit uns die Lebensmöglichkeiten auf dieser Erde teilen wollen. Und wie wir Sorge dafür tragen, dass die Gerechtigkeit dabei nicht unter die Räder kommt. Sehen müssen wir, wie die Fieberkurve unseres Planeten steigt, und entscheiden, zu welchen Therapien wir uns aufraffen können.

Sehen – und gesehen werden! Das Letztere ist genauso wichtig. Dass jemand wahrnimmt, wer wir sind. Wer wir sein wollen. Und wer wir sein können, wenn sich uns der Raum dafür öffnet. Ja, meine Ansehnlichkeit will ich gewinnen, neu gewinnen – bei den Menschen und bei Gott.

Doch allem Sehen geht das rechte Hören voraus. Wie im Gleichnis, abgebildet in diesem Gottesdient zum Neujahrstag mit der festlichen Kantate aus dem Bach’schen Weihnachtsoratorium – erstmals aufgeführt am dritten Weihnachtstag, dem 27. Dezember des Jahres 1734 in Leipzig, „Frühe in St. Nicolai und Nachmittage in St. Thomae“ – wie auf dem Titelblatt der Partitur zu lesen ist.

Festlich und mächtig wird sie gleich noch einmal das gesungene weihnachtliche Wort ergreifen. Keinesfalls bescheiden kommt sie daher. Eher wie eine stolze Hymne – so als hätten wir alles im Griff – weil unsre Wohlfahrt befestiget steht! Was für ein kühner Satz! Der Eingangs- und Schlusschor mit dem vorpreschenden Tenor und den Auf- und Abwärtsbewegungen in den Frauenstimmen – mit den atemlos jagenden Achtel- und Sechzehntelnoten, die wuselnden Schafen gleich umhertanzen – der Eingangs- und Schlusschor lässt heute noch einmal weihnachtliche Pracht zur Entfaltung kommen. Es ist der große Jubel, nach dem wir uns sehnen. Und zu dem wir doch viel zu selten Anlass haben.

Schon die ersten Zeilen des Textes beschreiben auf ganz eindrückliche Weise die Weltsicht der Kantate. Mächtig und eindrücklich wendet sich der Chor an Gott selber. An den „Herrscher des Himmels“. Und beschreibt das eigene Ansinnen schon im nächsten Satz als ein „Lallen“. Spricht von „matten Gesängen“.

Ist das Understatement? Schwingt da noch die Vorlage durch, aus der Kantate, die dem Lob der sächsischen Königin gewidmet war? „Blühet ihr Linden in Sachsen wie Zedern“ – so die Vorlage! Oder ist es das Eingeständnis des unendlich großen Abstands zwischen Gott und Mensch?

Für mich verbirgt sich hinter diesem Widerspruch einfach das Geheimnis der Weihnacht – und ein ungetrübter Blick auf unsere Wirklichkeit. Leben ist immer Leben im Widerspruch. Da treffen verschiedene Seh- und Sichtweisen, ja verschiedene Welten aufeinander. Oder noch besser, weihnachtlicher formuliert: Da erweisen sich die Welt Gottes und die Wirklichkeit von uns Menschen als unentwirrbar ineinander verwoben. Mehr noch: Sie gehen ineinander auf. Unterscheiden sich nur durch die Perspektive, die Blickrichtung, die ich auf sie richte. Alles, was ist, ist viel mehr als es ist!

Und mit dem weihnachtlich ausgerichteten Blick sehe ich plötzlich etwas ganz anderes, als es beim normalen Hinschauen den Anschein hat. Da wird ein Kind geboren, wie täglich durch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch. Aber unter dem noch weihnachtlich geschärften Blick erfahre ich mit einem Mal: Gott sucht die Nähe des Menschen. Gibt sich hinein in unsere Welt. Macht sich greifbar und angreifbar. Alles, was ist, ist viel mehr als es ist!

Da fehlen auch uns oft die Worte, um diese Erfahrung zur Sprache zu bringen. Und anstatt mühsam zu stammeln, nach Worten zu ringen, zu „lallen“, wie es im Eingangs- und Schlusschor heißt, ist da plötzlich unbändiger Jubel zu vernehmen. Keine Spur von „matten Gesängen“.

Den Hirten geht es nicht anders! Sie gehen ihrem Tagwerk nach. Treiben die Schafe abends in den Schutz bietenden Hürden, wie es heißt, zusammen.  Doch ihre Mattigkeit nach getaner Arbeit wandelt sich mit einem Mal in Aufbruchsstimmung! Die Engel reißen sie heraus aus ihrem abendlichen Atemholen. Der Abend wird plötzlich zum Feier-Abend!

An diesem heutigen Feierabend ließe sich Entscheidendes zu unserer eigenen Hör- und Sehhilfe gewinnen. Nicht nur im Deuten des weihnachtlichen Geschehens. Sondern um Orientierung zu gewinnen, für die 365 Tage dieses neuen Jahres. Für uns und unser Leben überhaupt. Es lohnt sich also hinzuhören!

Johann Sebastian Bach „Herrscher des Himmels“
Weihnachtsoratorium Teil 3

Predigt - Teil 2

Liebe Gemeinde!

Sehen und gesehen werden! Die Hirten haben begriffen, worauf es ankommt! „Lasset uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen!“ Einfache Leute. Und doch Menschen mit einem klaren Blick dafür, worauf es ankommt. Die Hirten nehmen nicht einfach Fakten wahr. Das wäre bestenfalls ein Scannen von Äußerlichkeiten. Sehen meint mehr.

Sehen meint, den Dingen auf den Grund zu gehen. Sie in rechter Weise einzuordnen. Sie zu deuten. Die Hirten, sie sehen wirklich. Und sie reden. Und erzählen. Und die, die zuhören, “alle, vor die es kam“, reiben sich verwundert die Augen.

Nicht weil es so abstrus ist, was sie da zu hören bekommen. Sondern weil es auch ihnen die Augen öffnet. Weil es die weihnachtliche Verwandlung des Alltäglich ermöglicht. Alles, was ist, ist viel mehr als es ist.

Wenn ich diese Wahrheit auf mein Leben anwende, dann sehe ich mit einem Mal die Wirklichkeit hinter den Dingen. Wenn ich aus der kleinen Geste der Freundlichkeit Gottes Zuwendung herausspüre. Wenn ich in den wenigen Tagen zwischen den Jahren eine kleine Unterbrechung böser Lebenszusammenhänge wahrnehme. Wenn irdische Musik plötzlich nach Himmel schmeckt – dann höre und sehe ich mit einem Mal ganz neu. Werde selber zum Hirten, zur Hirtin. Möchte Menschen dazu bringen, sich zu wundern und von Neuem über das Leben in seiner Vielfalt zu staunen.

So wie die Violine am Beginn der Alt-Arie! Was für eine innige und Herzen verwandelnde Musik! Von Bach nicht aus einer anderen Kantate übernommen, sondern eigens für diese Kantate komponiert. Wie die Violine da das Wunder der Weihnacht umspielt und umtanzt. Noch ehe die menschliche Stimme erklingt, bringt sie mich dazu, mich zu wundern. Und auf das zu Warten, was dann zu hören und zu sehen sein wird – dieses „Schließe mein Herze dies selige Wunder, fest in deinem Glauben ein!“

Die Hirten machen sich dieses Programm zu eigen. Am Ende sind sie nicht mehr die gleichen wie vorher. „Die Hirten kehrten wieder um“, heißt es da. Aber das ist nicht das Letzte, was über die Hirten zu sagen ist. Ihr Leben geht weiter. Aber unter veränderten Vorzeichen. „Sie priesen und lobten Gott“ erfahren wir weiter über sie. Wer gesehen hat, kann nicht einfach schweigen.

Hören. Sehen. Und reden. Die Stimme erheben für die, die keine Stimme mehr haben. Sicherheit möglich machen für die, die ihre eigene Heimat durch gefährliches Wasser verlassen. Für mehr Gerechtigkeit eintreten im Einsatz für die, denen das, was sie haben, nicht zum Leben reicht. Anders gesagt: Ein Mitmensch sein für die, die nicht mehr brauchen, als eben einen Menschen auf Augenhöhe, der es gut mit ihnen meint. Einen Menschen, der sie sieht.

Die Hirten sehen. Und sie spüren. Sie sind selber angesehen. Und für wert geachtet bei Gott. Gesehen werden wie Hagar. Die ägyptische Magd Abrahams, die vor Sarah in die Wüste flieht. Und die dort ihre Erfahrung in die Worte fasst. „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Diese lapidare Erkenntnis ist das Jahresmotto für dieses Jahr 2023.  „Du bist ein Gott, der mich sieht!“

Wenn mich die Gegenwart zu überfordern scheint, wenn ich mich verheddere in meinem Das-Gute-Wollen und genau daran zu scheitern, dann hole ich neu Atem. Weil ich weiß: Ich bin gesehen! Mehr noch: Ich bin gern gesehen – bei Gott!

Alles, was ist, ist viel mehr, als es ist! Für das Kind in der Krippe gilt das. Für mich selber. Für jede und jeden von uns. Ich sehe. Und ich bin gesehen! An jedem Tag des Jahres. An jedem Tag meines Lebens. Jeden Tag anders. Wenn das kein Jahresprogramm ist! Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.