Predigt über Jesaja 54,7-10 im Gottesdienst am 19. März 2023 (Lätare) in der Stadtkirche in Schwetzingen

19.03.2023

Liebe Gemeinde!

„Spielt denn jetzt auch noch der liebe Gott verrückt?“ Diese Frage habe ich unlängst irgendwo gehört. Wenn man die Welt anschaut – wenn man sich erinnert und vor Augen hält, was sich da gegenwärtig alles abspielt, könnte man am Ende fast auf diesen Gedanken kommen.

Die heftigsten Beispiele kennen Sie alle! 6.2 Millionen Menschen sind – so die Weltgesundheitsorganisation - zwischen März 2020 und März 2023 weltweit an oder mit Corona gestorben. Allein in Deutschland 160.000 – so das Robert-Koch-Institut.

Und als wäre das noch nicht genug, hat im Februar 2022 Putins unsäglicher Krieg in der Ukraine begonnen. Auch hier kommen tagtäglich unzählige Menschen grauenvoll ums Leben. Genaue Zahlen gibt es hier nicht. Die wirklichen Zahlen liegen irgendwo zwischen 10.000 und 100.000. Dazu kommen die nach Millionen zählenden Geflüchteten. Von den ganzen zerbombten Städten und der zerstörten Infrastruktur ganz zu schweigen.

Und neben diesen beiden großen Schrecken gab’s und gibt’s genügend anderes. Der normale Wahnsinn, die normalen Verrücktheiten des Lebens. Im Großen wie im Kleinen! Bei jeder und jedem von uns.

Heute ist der Sonntag Lätare. Der Sonntag mit dem Namen „Freut euch!“ Das kleine Osterfest nennen ihn manche. Ostern – schon mitten in der Passionszeit. Verrückt. Aber die Passion ist vielen Menschen in diesem Jahr fast näher als Ostern – bisher jedenfalls. Aber die Sehnsucht nach Ostern ist gerade deshalb groß.

Und meine eingangs gestellte Frage, ob denn jetzt auch noch Gott selbst verrückt spielt – sie hängt nicht nur an den schrecklichen Zahlen. Sie hat auch etwas mit dem Predigttext für diesen heutigen Sonntag zu tun. Er findet sich bei Jesaja im 54. Kapitel, dort in den Versen 7-10.

Der, der hier redet im Auftrag Gottes, das ist nicht Jesaja. Der hat ja schon im achten Jahrhundert vor Christus gelebt. Aber ab dem 40. Kapitel des Jesajabuches spricht ein Prophet, über dessen Person wir viel weniger wissen als über Jesaja selber. Seine Worte stammen aus der Mitte des 6. Jahrhunderts vor Christus. Weil wir den Namen nicht kennen, nennt man ihn einfach den zweiten Jesaja.

Die Worte dieses zweiten Jesaja lesen sich zunächst ganz tröstlich. Er ist der Lieblingsprophet Jesu. Keinen anderen Propheten zitiert Jesus so oft wie ihn. Dieser Prophet passt auch am besten zum Sonntag Lätare. Seine Worte haben es in sich. Und er gibt uns einiges zu kauen. Aber hören sie selbst!

Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.

Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.

Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.

Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.

Was für ein fulminantes und tröstliches Ende, liebe Gemeinde! Aber Vorsicht! Dem geht etwas voraus. „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen!“, heißt es da. Und dann weiter: „Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen!“

Gott zieht sich also zurück. Überlässt die Menschen ihrem Schicksal. „Einen kleinen Augenblick“ nur. Aber wenn wir bedenken, dass Gottes Zeitrechnung wohl eine ganz andere ist als die unsere - „tausend Jahre sind bei Gott wie ein einziger Tag“ heißt es in den Psalmen – wenn wir diese Zeitrechnung zugrunde legen, dann kann dieser „kleine Augenblick“ ganz schön lang dauern.

Die Verborgenheit Gottes, von der der Prophet hier spricht – im 6. Jahrhundert vor Christus haben Menschen das wohl so erlebt. Die wichtigsten Leute hat Nebukadnezar aus Israel nach Babylon verschleppen lassen. Priester. Waffenschmiede. Andere Handwerker. Bauern. Die, die die Wirtschaft am Laufen halten. Doch dann, nach einem halben Jahrhundert, haben die Babylonier ausgedient. Jetzt sind die Perser an der Macht. Und Kyros, ihr König, lässt die Verschleppten wieder zurück in ihre Heimat. 50 Jahre immerhin hat die babylonische Gefangenschaft, hat der „kleine Augenblick“ gedauert.

Wenn wir auf den Lauf der Geschichte schauen, dann scheint es so, als ziehe sich Gott ein ums andere Mal zurück. Schon Hiob hat das so erlebt. Gott entzieht ihm seine schützende Hand. Hiob fällt in den Gottesentzug. Verliert alles, was er hat. Ohne eigenes Verschulden. Ohne eigenes Zutun. Gott testet ihn aus. Wie zuvor schon Abraham. Der soll seinen Sohn drangeben. Und wird uns gerade deshalb als Vorbild im Glauben vor Augen gehalten. Was für ein verrücktes Spiel. „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen!“

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Selbst Jesus aus Nazareth, der, den wir als Sohn Gottes bekennen, stirbt mit diesen Worten auf den Lippen. Die Gottes-Finsternis als Normalfall der Gottes-Erfahrung – wirklich verrückt!

Eine Gottes-Finsternis! Ist es das, was sich da gegenwärtig auch bei uns ereignet? Und die Menschen verlassen gleich auch noch scharenweise die Kirche. 380.000 allein im vergangenen Jahr, die aus der Evangelischen Kirche ausgetreten sind. Auch ein Anzeichen einer Gottesfinsternis? Dass Gott sich überhaupt zurückzieht – schon verrückt, so etwas zu denken!

Aber was hat es dann auf sich mit diesem Zorn Gottes, von dem der Prophet spricht? Stimmt das wirklich, wenn wir hören: „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen!“

Jetzt hilft nur eines: Wir müssen den Text von hinten her lesen. „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht Gott.“ Und schon vorher: „Ich habe dich zwar einen kleinen Augenblick verlassen. Aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich wieder zusammenbringen. Ich habe mein Angesicht ein wenig vor dich verborgen. Aber mit ewiger Zuwendung will ich mich um dich kümmern.“

„Kleiner Augenblick – doch dann: große Barmherzigkeit. Ein wenig verborgen – doch dann: ewige Zuwendung“. Die Gottesrede hat ein eindeutiges Gefälle. Zu unseren Gunsten! Das, was ist, und das, was kommt – beides steht in keinem Verhältnis der Entsprechung. Die böse Gegenwart wird um ein Vielfaches übertroffen. Übertroffen von der Menschenfreundlichkeit, von der Zuwendung und  von der Zukunft Gottes.

Was uns in Atem hält und den Atem nehmen will – es ist nicht das Ende. Am Ende wird alles nicht nur gut. Mehr noch. Am Ende wird die Gegenwart Gottes seine Abwesenheit weit in den Schatten stellen. Und vergessen machen.

Aber wir sind jetzt noch nicht am Ende. Mit der Predigt nicht. Und auch nicht mit dem, was uns gegenwärtig auf der Seele liegt. Diese Abwesenheit Gottes, diese Gottesfinsternis – gibt es sie denn überhaupt? Wäre Gott nicht einfach zynisch, wenn er sich ab und an einfach zurückzöge und uns unserem Schicksal überließe? Das ist die große Frage der Theologie, liebe Gemeinde! Wenn es Gott denn gibt – woher rührt dann all das Böse in der Welt?

Die Antwort, die wir bei Jesaja finden, sie ist ein Versuch, hier mit dem Verstehen weiterzukommen. Die Menschen sind überzeugt: Wenn Gott gut ist, muss auch die Welt gut sein. Wenn sie es nicht ist, dann nur deshalb, weil Gott sich zurückzieht. Nicht für immer. Aber doch ein klein wenig. Das ist die Sicht des Predigttextes. Das sind die Worte, das ist das Denken des zweiten Jesaja

Man muss mit dieser Antwort nicht zufrieden sein. Ich bin es auch nicht. Es gibt keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage nach der Ursache des Bösen. Aber es gibt unser menschliches Suchen und Stammeln, um zu einer Antwort zu kommen.

Dennoch: Es gibt Versuche genug, diese Frage irgendwie auszuhalten. Der zweite Jesaja hält sich am Ende an Noah fest. An Gottes Zusage: „Ich will die Erde nicht mehr zerstören!“ Das Zeichen, dass die Gottesfinsternis am Ende ist – für den zweiten Jesaja, den Propheten ist es der Regenbogen. Und ich erinnere mich, in wie vielen Fenstern am Anfang der Pandemie der Regenbogen zu sehen war. Auch in unserem Fenster in der Kurfüstenstraße.

Eine andere mögliche Antwort ist die der Freiheit des Menschen. Dass Gott uns Menschen alle Freiheit zugesteht, auch die Freiheit, Böses mit Bösem zu vergelten und als Mensch dem Menschen ein Wolf zu sein – und dass Gott gleichzeitig diese Welt nicht aus den Augen lässt und nicht aus der Hand gibt – das ist ein Widerspruch, der sich sich fürs Erste logisch nicht auflösen lässt. Schon verrückt!

Eine weitere Sicht hat Dietrich Bonhoeffer in diese Suche eingebracht. Bonhoeffer unterscheidet die vorletzten und die letzten Dinge. Das Böse gehört dem Bereich des Vorletzten, des zu Überwindenden an. Auch daran ist vieles richtig. Bonhoeffers Gedankengang in seinen Gefängnistexten rührt mich jedes Mal aufs Neue: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern auf ihn verlassen.“

Aber wie sehr tröstet es mich am Ende wirklich, wenn ich mir klar mache, dass ich eben im Vorletzten lebe. Und damit in bleibender Sichtweite des Bösen. Und dass ich keine andere Möglichkeit habe, als auszuhalten, was sich eigentlich gar nicht aushalten lässt.

Bonhoeffer hat diese Sicht mit seinem eigenen Leben abgedeckt. Aber ob es ein Modell für alle ist, da habe ich schon auch meine Zweifel.

Es gibt noch einen Antwortversuch, mit dem kann ich selber die Gottesfinsternisse und Gottesabwesenheiten am besten aushalten. Keine Antwort kluger Gedanken. Sondern die Antwort des Vertrauens in einen anderen. Und darum komme ich noch einmal auf den zurück, der seine eigene Erfahrung der Abwesenheit Gottes mit einem Psalmgebet in Worte fasst: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Aus dem Blickwinkel des Ostermorgens heraus wissen wir: Diese Abwesenheit Gottes war nicht das Letzte, Gott blieb auch in seiner Abwesenheit präsent. Mehr noch: Gott hat diesen Jesus ins Recht gesetzt. Hat ein für alle Mal klar gemacht: Die neue Welt Gottes beginnt nicht irgendwann am Ende aller Zeiten. Sie hat längst begonnen. Mitten unter uns. Auch unter den schwierigsten Bedingungen. Hier in Schwetzingen beginnt sie. In unserer Landeskirche. Weltweit. Nicht nur in der Kirche. Sondern auch jenseits der uns vertrauten Mauern.

Aushalten kann ich die Erfahrung der Abwesenheit Gottes nur, wenn ich weiß: Es ist ein Antwortversuch. Eine uneigentliche Redeweise. Ein Stammeln. Ein Erklärungsmodell, das sich eines Bildes bedient. Es ist das Eingeständnis, dass mein rationales Erklären hier an sein Ende kommt. Aber dann halte ich mich fest an dem, der wie wir durch diese Erfahrung gegangen ist. Und dessen Gottesfinsternis Gott selber ein Ende gesetzt hat.

Mich fasziniert dieser Gegensatz des kleinen Augenblicks der Abwesenheit und des großen Erbarmens. Und halte mich dabei auch noch ein klein wenig an Paulus fest. Denn auch er spielt mit diesem Bild der Überbietung des Bösen durch das Gute. „Wenn durch Adam, also durch unser menschliches Tun und Lassen das Böse bei uns Einzug gefunden hat“, so schreibt er, „um wieviel mehr wird Christus dem Bösen ein Ende setzen und das Gute siegen lassen.“ Also auch hier: Am Ende wird alles gut!

Wie gut, dass dieses Gute längst begonnen hat! In jedem kleinen Versuch, dieser Welt ein anderes Gesicht zu geben. In jeder Geste der Menschlichkeit. In jeder durchgehaltenen Zuwendung und Liebe. Vielleicht doch auch in einem Mehr, einem größeren Bemühen, auch diesem Krieg ein Ende zu machen. Nicht der Sieg ist doch das Ende, sondern die Überwindung des Bösen. Das ist noch einmal etwas anders. Und dazu könnten wir als Kirche durchaus noch mehr sagen.

Geduld braucht es und Nächstenliebe. Vertrauen in die Hoffnung auf den radikalen Wandel und Glauben braucht es. „Wenn ihr Glauben hättet so groß wie sein Senfkorn“, sagt Jesus, „dann könntet ihr die Welt aus den Angeln heben und mit einem Wort einen Berg im Meer verschwinden lassen.“ 

Und „selbst wenn die Berge ins Meer fallen“, sagt der zweite Jesaja im Auftrag Gottes, „meine Gnade soll nicht von euch weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen.“

Das lässt mich leben. In aller Gottesfinsternis. In allem, was mir wie eine solche vorkommt. Nein. Gott spielt nicht verrückt. Höchstens Sie und ich! Gott rückt zusammen, was uns sehenden Auges auseinanderbricht. Glauben, so groß wie ein Senfkorn! Mehr braucht's nicht, damit das Böse uns nicht in die Gottesfinsternis fallen lässt. Schon verrückt. Amen!

 

 

 

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.