Predigt im Gottesdienst im Rahmen der Albert-Schweitzer-Predigtreihe am Sonntag, 16. März 2025 (Reminiszere) in der Ludwigskirche in Freiburg

16.03.2025

Liebe Gemeinde!

Manchmal wünsche ich mir, Albert Schweitzer lebte noch mitten unter uns. Und die politischen Entwicklungen der letzten Monate haben den – leider unerfüllbaren – Wunsch nach der Gegenwart von Albert Schweitzer noch verstärkt.

Albert Schweitzer war – nein ist immer noch - eine Institution. Eine vielseitig herausragende Persönlichkeit. Dreifach promoviert. Mit einem Standardwerk über das Leben Jesu genauso wie einem über Johann Sebastian Bach von höchstem wissenschaftlichen Rang. Ein ausnehmend begabter Organist, der immer wieder mit seinen Konzerten seine Arbeit mitfinanzierte.

Und als wäre das alles nicht schon mehr als genug für eine Person hat er sich als Urwaldarzt mit dem von ihm gegründeten Hospital in Lambarene bleibende Anerkennung und Bewunderung geschaffen. Die Verleihung des Friedensnobelpreises im Jahre 1953 schien so etwas wie die logische Konsequenz eines Ausnahmelebens. Dabei war vieles, was so stringent und mit Absicht geplant schien, oft das Ergebnis einer situativ getroffenen, beinahe zufälligen Entscheidung.

Das Bild Albert Schweitzers, sein äußerer Anblick, werden die meisten zumindest gedanklich vor Augen haben. Albert Schweitzer sähe aus wie ein „naher Verwandter des lieben Gottes“ – das hatte der Spiegel schon im Dezember 1960 geschrieben. Und es ist sicherlich kein Zufall, dass er – zumindest in einer bestimmten Lebensphase - einer anderen geistesgeschichtlichen Größe tatsächlich deutlich ähnelte. Schnurrbart, Frisur und Stehkragen ließen Albert Schweitzer zeitweise wie den jüngeren Bruder von Friedrich Nietzsche aussehen. Und die Rede von den beiden – sicher ungleichen – Brüdern und deren Ähnlichkeit hat es durchaus in sich.

Albert Schweitzers Stimme wurde gehört. Nicht immer mit Zustimmung. Aber doch allemal mit Respekt. Er war nicht der geachtete Vertreter einer Institution. Albert Schweitzer sprach zunächst einmal für sich selbst. Und dann aber auch – zumindest nach seinem eigenem Verständnis - für die Menschheit. Er wurde nicht einfach gerühmt als Vertreter der Wissenschaft. Nicht gemessen und bewertet an der Zahl seiner Bücher und Veröffentlichungen – obwohl die Liste da durchaus beachtlich ist. Er wurde gehört, weil es ihm um die Mitmenschlichkeit, besser noch Mitgeschöpflichkeit als Lebensprinzip gegangen ist.

Menschen, die wie Albert Schweitzer durch ihr eigenes Sein, ihr So-Sein weltweit Beachtung erfahren, sind eher selten. Und in dem Maß wie bei Albert Schweitzer beinahe singulär.

In diesem Jahr, dem Jahr seines 150. Geburtstages, macht es schon Sinn zu fragen: Was ist das, das ihn bleibend hörbar, wahrnehmbar und doch auch lohnend aktuell macht? Worin liegt Albert Schweitzers bleibende Relevanz? Die Antwort findet sich nicht dadurch, dass man wie mit einem Sieb zu prüfen versucht, was bleibt, wenn man ihn kräftig rüttelt. Es würde wenig wie feiner Sand durch das Sieb hindurchrieseln. Die Brocken im Sieb wären immer noch zu mächtig und zu groß.

Und neben vielem von dem, was ich schon angedeutet habe – neben dem Arzt, Wissenschaftler und Menschenfreund - bliebe auch der ethische Denker Albert Schweitzer im Sieb. Der, um den’s heute in diesem Gottesdienst gehen soll.

Das Schlagwort von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ hat sich breit erhalten. Und es ist sicher ein zentraler Schlüsselbegriff. Aber um Albert Schweitzers ethischen Ansatz zu verstehen, müssen wir den Blick erst etwas weiten. Bei der Ethik geht es um die Unterscheidung von richtigem und falschem Handeln, um die von Gut und Böse. Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung beschreibt die Bibel gleich auf einer der ersten Seiten:

Da lockt die Schlange die Eva, doch von den Früchten des Baumes mitten im Garten zu kosten. Und sie fährt fort: „Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“

Nur weil das Böse existiert, ist Ethik überhaupt nötig. Und weil diese Frage so grundsätzlich ist, will Albert Schweitzer sie aus der Ecke fachwissenschaftlicher Gelehrsamkeit herausholen. Und sie mitten im Leben und in großer Bedeutsamkeit für viele beantwortet sehen.

Dabei hat Albert Schweitzer keine umfangreiche, rational durchgestaltete oder auch spekulative Ethik mit Hunderten von Seiten geschrieben. Bedeutende Vorbilder hätte es hier genügend gegeben. Von Platon und Aristoteles bis zu Immanuel Kant – um nur ganz berühmte Namen zu nennen. Von ihnen setzt sich Albert Schweitzer ganz bewusst ab. Seine ethische Theorie drängt von Anfang an ins Praktische. Ins Handeln. In die gelebte Mitgeschöpflichkeit.

Eigentlich will Albert Schweitzer in Lambarene etwas zum Zustand der Welt zu Papier bringen – so wie er sie sieht. 1915 ist das. Während zu Hause der Erste Weltkrieg tobt. Dessen Realität macht ihn nicht sprachlos. Aber illusionslos. Die abendländische Kultur sieht er im freien Fall begriffen. Aber er will ihr keine neue Gesellschaftsordnung entgegenstellen. Insofern sucht er nicht nach einem politischen Konzept. Er sucht nach einer neuen Haltung zum Leben. Er sucht nach einem gedanklichen Schlüssel, um dem, woran ihm liegt, in eine innere Schlüssigkeit zu bringen. Dabei steht er zunächst, wie er sagt, vor einem verschlossenen „eisernen Tor“.

Am Ende wird er fündig. Auf einer tagelangen Fahrt auf dem Fluss Ogowe in Gabun. Schweitzer schreibt dazu – in durchaus romantisierendem Stil: „Am Abend des dritten Tages, als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde hindurchfuhren, stand urplötzlich, von mir nicht geahnt und gesucht, das Wort „Ehrfurcht vor dem Leben“ vor mir. Das eiserne Tor hatte nachgegeben. (…) Nun war ich zu der Idee vorgedrungen, in der Welt- und Lebensbejahung und Ethik miteinander sind.“

Der Begriff war in ihm aber schon vorhanden. Denn schon vier Jahre zuvor, in einer Vorlesung in Straßburg trägt er seinen Studierenden folgenden Gedanken vor: „Was Leben ist, ist uns nicht nur ein Geheimnis, sondern ein Rätsel. (…) Daher ist es die Ehrfurcht vor dem Leben, von der auch der überzeugteste Materialist beseelt ist, wenn er es vermeidet, den Wurm auf der Straße zu zertreten oder Blumen zwecklos abzupflücken. Und diese Ehrfurcht ist der Grundton aller Kultur.“

Schweitzer hat auf dem Fluss also einen Begriff wieder entdeckt, den er schon vier Jahre zuvor so verwendet hat. Aber jetzt kann er ihn in ein größeres Ganzes einordnen. Ziel ist ein Individuum, das sich seiner ethischen Verantwortung und seiner Möglichkeiten bewusst ist. Kant schätzt er durchaus. Aber dessen Rede vom Transzendentalen hält er für das „Dümmste, das er erfunden hat.“ Die Stoa schätzt er. Aber er will deren Ethik ins Leben ziehen.

Im zweiten Teil seiner Kulturphilosophie, erschienen 1923, formuliert Schweitzer die bis heute vertrauten Sätze: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. – Der denkend gewordene Mensch erlebt die Nötigung, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen, wie dem seinen. Er erlebt das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm, Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen. Als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten. Dies ist das denknotwendige, universelle und absolute Grundprinzip des Ethischen.

Beim Thema des Willens, der sich im Denken weiterentwickeln muss, ist er sich mit Nietzsche einig. Aber Nietzsche nimmt das Recht des Stärkeren gegenüber der Moral der Schwachen als gegeben an: Für Barmherzigkeit hat Nietzsche nur Verachtung übrig. Hier kämpft Schweitzer für eine ganz andere Kultur, die jeder Form von Leben das gleiche Recht, denselben Wert zuerkennt.

Dieses Prinzip, die Haltung der „Ehrfurcht vor dem Leben“ findet sich für Albert Schweitzer auch in der Lehre Jesus abgebildet. Nicht sein Tod und seine Auferstehung, sondern seine gelebte Mitgeschöpflichkeit lassen ihn zu einem Lehrer der „Ehrfurcht vor dem Leben“ werden. Schweitzers Ethik – das betont er ausdrücklich - ist nicht an den Raum des Christentums gebunden. Sie ist – wie wir heute formulieren würden - interkulturell und interreligiös anschlussfähig. Und hat gerade darin ihre Stärke.

Albert Schweitzers Ethik braucht keinen großen spekulativen Überbau. Sie zielt auf ein praktisches Handeln, mit dem der einzelne die Prägung der Gesamtgesellschaft aus den Angeln heben kann. Gerade wenn sie sich im freien Fall befindet.

Albert Schweitzer hat viele Menschen beeindruckt. Seine Kulturphilosophie, in deren zweitem Band er seine Ethik veröffentlicht, verkauft sich gut. Fast 100.000mal. Sie gefällt den Menschen. Die Fachgelehrsamkeit und einige seiner Sympathisantinnen und Sympathisanten rümpfen die Nase. Oder sie schweigen. Wer gelesen und verstanden wird, macht sich verdächtig. Das ist heute nicht immer wirklich anders. Denn Albert Schweitzers Ethik hält es nicht aus zwischen Buchdeckeln. Dort ist nicht ihr Ort.

Das ist schon so, bevor er seine Gedanken zur Ehrfrucht vor dem Leben überhaupt durchdacht und niedergeschrieben hat. Damals, als er sich entschließt, Medizin zu studieren. Keinesfalls um seine Laufbahn als Urwaldarzt vorzubereiten. Nein, sondern um nach den eher schöngeistigen Jahren die Voraussetzungen für ein konkretes Engagement der Mitmenschlichkeit zu schaffen. Eine Entscheidung reiht sich an die andere. Das Gesamtbild des Puzzles steht erst am Ende – um ein Gesamtbild ist es Schweitzer ohnedies nie gegangen.

Aber aus der Rückschau ergibt sich aus dem Zusammenhang von Albert Schweitzers intellektueller  Durchdringung der Grundlagen des Menschlichen  und der Umsetzung in konkretes Handeln durchaus so etwas wie ein Ganzes – und gerade deshalb wünsche ich mir, Albert Schweitzer lebte noch mitten unter uns.

Albert Schweitzers Plädoyer für die Ehrfurcht vor dem Leben hat auch in Lambarene konkrete Folgen. Was Schweitzer fordert, soll der Natur insgesamt zugute kommen – nicht nur den Menschen. Die Bilder der Ameisenstraße, die über seinen Schreibtisch führt und die er sogar noch mit einem Zuckerbrei anfüttert, sind bekannt. Bevor ein Pfahl in den Boden geschlagen wird, untersucht er die Öffnung in der Erde nach Käfern, Ameisen und Unken und bringt diese in Sicherheit. Wenn er an Weihnachten predigt, dann wendet er sich wie einst Franz von Assisi an Menschen und Tiere.

All dies sind keine Marotten. Es ist die Umsetzung seiner Anschaung der „Ehrfurcht vor dem Leben“. Der Umgang mit den Tieren ist ein schwarzer Fleck auf dem Gewand der Gegenwart. Wer Tierschutz fordert, erntet nicht selten Häme. Gerade auch deshalb wünsche ich mir, Albert Schweitzer lebte noch mitten unter uns.

Der Parteigänger der Tiere – für manche ist das die Marotte, die man Schweitzer durchgehen lässt, weil er ansonsten ja durchaus ernstzunehmen ist. Mit einem anderen Thema will das nicht mehr so leicht gelingen.

Denn gegen Ende seines Lebens wird Albert Schweitzers Einsatz für die Ehrfurcht vor dem Leben noch einmal hochpolitisch. Jetzt wollen ihn manche doch von seinem Denkmal stürzen. In einem Brief an Theodor Heuss schreibt Albert Schweitzer: „Ich sah es, um mit St. Paulus zu reden, nicht als einen Raub an, den Friedensnobelpreis erhalten zu haben. Sondern ich wollte auch noch etwas für den Frieden tun. So kam ich dazu, mich mit der Frage der Atomgefahr (…) ernstlich zu beschäftigen.“

Albert Schweitzer prüft, sondiert, denkt nach – sein Ergebnis ist eindeutig. In einem kleinen Beitrag zum Thema schreibt er: „Nur in dem Maße, in dem sich die Völker der Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben unterwerfen, werden sie füreinander völlig vertrauenswürdig. Eine Utopie? Wenn wir nicht dazu kommen, diese Utopie zu verwirklichen, bleiben wir miteinander den Atomwaffen und dem Verderben, das sie bedeuten, ausgeliefert.“

Viele haben das damals nicht gerne gehört. Viele hören das auch heute nicht gerne. Den menschenfreundlichen Urwaldarzt, der so schön Orgel spielen konnte, den hat man geschätzt. Den tierlieben Ameisenbeschützer, der – im wahrsten Sinne des Wortes - keiner Fliege etwas zu leid tun konnte, den hat man ertragen. Den politischen Schweitzer, der aus derselben Quelle in der Frage der Atomwaffen zu anderen Ergebnissen kam, als man selber, dem haben viele dann wortgewaltig zu widerstehen versucht.

Ohne diesen finalen Akkord in der Ethik Albert Schweitzers ist seine Lebenssymphonie nicht zu Ende gehört. Gerade deshalb wünsche ich mir gerade in diesen Zeiten, Albert Schweitzer lebte noch mitten unter uns. Denn gerade hier ist Schweitzers Urteil von seinem Plädoyer für die Ehrfurcht vor dem Leben nicht zu trennen.

Am Katheder und an der Orgel, am Schreibtisch oder im OP, bei der Übergabe des Friedensnobelpreises wie bei seinem politischen Engagement - im Hintergrund stand und steht Albert Schweitzer, der freie, unabhängige und mündige Mensch und Weltbürger. Seine Ethik war keine Zutat zu seinem Leben. Es war die Quintessenz dessen, was ihn ausgemacht hat. Und es war eine fast kindlich fromme Orientierung am Beispiel Jesu von Nazareth. Von ihm bekennen wir, dass er lebe. Mitten unter uns. Von vielen der Gedanken Albert Schweitzers wünsche ich mir das auch. Vor allem von dem der „Ehrfurcht vor dem Leben“. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat i.R., Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, Opa, liest und schreibt gern.